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Wolfgang Kraushaar

Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus

Hamburg: Hamburger Edition 2005; 300 S.; geb., 20,- €; ISBN 3-936096-53-8
Albert Fichter bittet die Jüdische Gemeinde in Berlin um Vergebung. Nach über 30 Jahren gesteht er, am 9. November 1969 einen Anschlag auf deren Gemeindehaus versucht zu haben. Das Geständnis fällt gegenüber dem Politikwissenschaftler Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung, der damit diesen Anschlag aufklärt. Es war der erste auf jüdische Mitbürger seit dem Ende des Nationalsozialismus, verübt aber nicht von Rechtsradikalen, sondern von extremen Linken. Zwei Tabus seien damit durchbrochen worden, schreibt Kraushaar. Es sollte Gewalt gegen Menschen angewendet und Israel zum legitimen Angriffsziel erklärt werden – der Nahost-Konflikt sollte in der öffentlichen Debatte an die Stelle des Vietnamkrieges treten. Dahinter stand die Absicht, die Proteste der APO nach dem gescheiterten Widerstand gegen die Notstandsgesetze auf einer neuen Ebene auszuweiten. Im Zentrum dieser Radikalisierung habe aber nicht der Hochschulbund SDS oder der Attentäter Fichter gestanden, so Kraushaar, sondern Dieter Kunzelmann. Einst Kopf der Kommune I, gründete er mit den Tupamaros West-Berlin die erste westdeutsche Guerillagruppe, die palästinensische Ausbildungslager besuchte und noch vor der RAF in den Untergrund ging. Nach dem versuchten Bombenanschlag exponierte Kunzelmann sich öffentlich als geistiger Urheber (der er auch war). Als Täter aber hatte er Fichter ausgewählt und in einer sektenähnlichen Atmosphäre unter Druck gesetzt, weil er dessen Bruder Tilman (einst im SDS, heute in der SPD) eins auswischen wollte – dieser hatte sich als Linker explizit gegen den Antisemitismus ausgesprochen. Das Bombenmaterial scheint Kunzelmann von einem V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes erhalten zu haben. Als Ergebnis dieser Recherche, die Kraushaar spannend wie einen Krimi aufgeschrieben hat, bleibt der Eindruck, dass Kunzelmann vielleicht selbst instrumentalisiert wurde – von antisemitischen Palästinensern und vom Verfassungsschutz, der die APO (mit einer vielleicht unbrauchbaren Bombe?) in Misskredit bringen wollte.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.3132.372.35 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus Hamburg: 2005, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/23597-die-bombe-im-juedischen-gemeindehaus_27104, veröffentlicht am 25.06.2007. Buch-Nr.: 27104 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken