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Joachim Raschke: Die Erfindung der modernen Demokratie. Innovationen, Irrwege, Konsequenzen

14.10.2020
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Autorenprofil
Dr. Sven Leunig
Wiesbaden, Springer VS 2020

 

Mit 80 Jahren hat sich Joachim Raschke noch einmal einem, man kann wohl sagen Opus magnum gewidmet, und dafür spricht nicht allein der Umfang seiner hier besprochenen Monografie zur „Erfindung der modernen Demokratie“ (678 Seiten). Sie ist, wie man es von Raschke gewohnt ist, einem letztlich hochaktuellen Thema gewidmet, auch wenn sie im Gewande eines geradezu klassischen Überblickswerks über ein ebenso klassisches Thema auftritt: der Demokratie. Denn auch wenn der Terminus mit der näheren Beschreibung „modern“ versehen ist, so kommt Raschke natürlich nicht um die „klassische“, die antike Demokratie herum. Im Gegenteil: Er widmet sich seinem Objekt des Interesses nicht vornehmlich statisch, sondern prozessual. – Wie ist es, so fragt er, zur Ausprägung der Demokratie in ihrer modernen Form gekommen?

Klar ist, dass sie sich aus vielen Facetten zusammensetzt, die, und das betont Raschke immer wieder, aber nicht einem „Masterplan“ folgend von einem „Mastermind“ erfunden und dann über Jahrhunderte hinweg forciert und realisiert wurde. Wenn der Verfasser von der „Erfindung“ spricht, so ist es eher eine Erfindung verschiedenster Teile. Sie erinnert eher einem „Patchwork“ aus alten und jungen „Anteilen“. Oder um es mit Raschkes Worten zu sagen: „‚Moderne Demokratie‘ ist eine Synthese von Elementen und Vorstellungen aus verschiedenen Fällen und Pfaden.“ (11) Werte, Prinzipien, Institutionen – manche haben eine Geschichte, die in die Antike zurückgeht (etwa die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit), andere sind sehr viel jüngeren Datums (legitime Opposition und allgemeines Wahlrecht etwa). Sie haben sich nicht gleichzeitig und auch nicht stringent, sondern mit Rückschlägen und Rückschritten zu dem entwickelt, was wir heute vorfinden und was, um noch einmal auf die Aktualität des Themas zu sprechen zu kommen, gegenwärtig durchaus bedroht ist, wie es auch Raschke intensiv diskutiert (insbesondere in den Schlusskapiteln 22 und 23).

Zentral in seinem Werk sind die Innovationen von Institutionen, deren Entwicklung er in 13 Kapiteln nachzeichnet, vom Parlament über die sozialen Bewegungen bis hin zum Wahlrecht. Den Beginn der modernen Demokratie macht er im England des späten 17. Jahrhunderts (Stichwort: Glorious Revolution) aus, ihre letzten tragenden Säulen werden mit der „Erfindung“ des allgemeinen Wahlrechts um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert errichtet (66). Wesentlich sei, so Raschke, dass nahezu alle Innovationen, die zumeist retrospektiv (!) „dem“ demokratischen System zugeordnet wurden, nicht am Reißbrett entstanden, sondern zumeist pragmatische Antworten auf konkrete, historische Problemsituationen geben sollten (14).

Dabei mussten sich die „Neuerer“ stets gegen härtesten Widerstand der Traditionalisten durchsetzen, zumal – anders als in der Moderne – „Neuerungen“ eher selten prinzipiell positiv betrachtet wurden. So kam es zu „stotternden Erfindungen“ (19), mit Rückschritten und „Seitwärtsbewegungen“, bevor am Ende etwas steht, was wir Zeitgenossen als moderne Demokratie kennen. Dass die klassische Demokratie mit der unmittelbaren Volksherrschaft begann (und auch begrifflich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts mit dieser gleichgesetzt wurde), sich dann aber zur mittelbaren, repräsentativen Herrschaft für das Volk wandelte, hing wesentlich damit zusammen, dass die staatlichen Gemeinschaften immer größer wurden (Massengesellschaft) und sich zugleich nicht mehr autoritär regieren lassen konnten beziehungsweise wollten (32).

Zugleich wurden zentrale Prinzipien, die für die antiken „Kommunaldemokratien“ elementar waren, wie das Losverfahren oder die Ämterrotation, als nicht mehr zeitgemäß betrachtet und modifiziert oder gar abgeschafft. Dies galt auch für Grundsätze: Herrschte in Athen ein großes Vertrauen gegenüber der Befähigung der (wenigen) Vollbürger zur Selbstregierung, kennzeichnet die liberale Demokratie eher eine Skepsis, wenn nicht ein Misstrauen gegenüber den (nunmehr vielen) Bürgern (35). Selbst der Begriff der „Demokratie“ wurde von den Demokraten lange gemieden, stattdessen bezeichneten sie sich als „Republikaner“; dies änderte sich erst im 19. Jahrhundert (40). Bemerkenswert, und noch immer nicht selbstverständlich, ist, dass Raschke begrifflich auch den Sozialstaat eindeutig als Teilelement der modernen Demokratie erkennt (61).

Es soll in dieser Rezension nicht auf die umfangreich dargestellten Entwicklungen im Detail eingegangen werden. Vielmehr sei ein „Sprung“ in die Schlusskapitel erlaubt, insbesondere in den Abschnitt „Demokratie verstehen, reformieren, demokratisieren“. Hier stellt Raschke den demokratischen Institutionen (zum Beispiel das Parlament) Alternativen gegenüber (zum Beispiel die Räteversammlung), diskutiert diese intensiv (600 ff.) und kommt zu folgendem Schluss: „Starke Kerninstitutionen bei schwachen institutionellen Alternativen […] sind die Grundbausteine moderner Demokratie“ (606).

Ebenso spannend ist der Abschnitt unter der Frage: „Wo kommen die Aversionen gegenüber Demokratie her?“ (615 ff.). An dieser Stelle nennt er unter anderem eine tiefsitzende „Konfliktfeindschaft“, was zur Ablehnung von Pluralismus zugunsten eines vermeintlichen „Gemeinwohls“ führt, das von wenigen erkannt wird – der moderne Populismus lässt grüßen! Aber auch der Umstand, dass die Demokratie wie jede andere Herrschaftsform auf „Führung“ angewiesen ist, kann sie letztlich ad absurdum führen, wenn sich die „Geführten“ blind ihren „(An-)Führern“ unterwerfen (618). Raschke spart schließlich selbst nicht an dezidierter Kritik und pointierter Positionierung. So heißt es bei ihm: „Wenn Demokratie in den westlichen Demokratien scheitert, dann am ungezügelten Kapitalismus“ (620) – eine Ansicht, die er etwa mit Steven Levitsky und Daniel Ziblatt teilt.

Summa summarum: Insgesamt handelt es sich um ein Werk, das vor allem Entwicklungen, Pfade sichtbar machen will, und dies mit Erfolg. Vielleicht eignet es sich nicht unbedingt als „Lesestoff“ für Basismodule, aber zweifellos stellt es für die Leser*innen einen Gewinn dar, die an mehr als nur an einer reinen „Institutionenkunde“ interessiert sind.

 

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Rezensionen

Die Demokratien erwiesen sich zwar durchaus als robust, schreiben Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, beide Professoren in Harvard. Aber die internationale Lage sei im 21. Jahrhundert für sie doch deutlich ungünstiger geworden. Daher entwickeln sie unter Rückgriff auf viele negative wie positive Beispiele rund um den Globus einige Leitlinien für den Erhalt der Demokratie. Im Mittelpunkt ihres Buches stehen dabei die USA: Am vorläufigen Ende der Polarisierung ihrer Politik steht die Wahl des Populisten Donald Trump, gegen den es nun das demokratische Gemeinwesen zu verteidigen gilt.
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Die liberalen repräsentativen Demokratien geben nach Meinung der Herausgeber derzeit „ein durchaus gegensätzliches“ Bild ab, das ebenso autoritäre Tendenzen wie zunehmende Beteiligungsansprüche, vielfältige Protestaktionen und auch ein Experimentieren mit neuen Partizipationsformen aufweist. Die Autor*innen konzentrieren sich primär auf Phänomene eines Formwandels demokratischer Prozeduren und Praktiken. Aus Sicht der Demokratietheorie werden unterschiedliche Zugänge zum Populismus beleuchtet; thematisiert wird auch, was Demokratie jenseits nationalstaatlicher Verfasstheit bedeuten könnte.
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Der Historiker Till van Rahden betrachtet verschiedene Aspekte des demokratischen Zusammenlebens. Seiner Disziplin
entsprechend entfaltet er anhand einer Rückschau auf die westdeutsche Nachkriegsgeschichte die Bedingungen, Praktiken und Räume der Demokratie. Er beschreibt die Deutschen auf ihrer Suche nach Demokratie als leidenschaftlich, aber unbeholfen. Zentral für ihn ist, Demokratie als Lebensform zu begreifen, denn dies bedeute, dem Dissens und Widerspruch einen sicheren Raum zu geben und so die als unlösbar wahrgenommenen Konflikte aushalten zu können.
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Der gegenwärtige Populismus sei durch die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von zwei Entwicklungen geprägt, die Philip Manow als Demokratisierung und Entdemokratisierung der Demokratie bezeichnet. Zu beobachten sei eine Krise der Repräsentation, nicht aber der Demokratie. Erstere sei eine Konsequenz der Ausweitung politischer Partizipationschancen, weshalb die Demokratie zwar „demokratischer“ geworden sei. Die Krise der Repräsentation transformiere aber den Streit in der Demokratie zu einem über die Demokratie. So würden „Dynamiken der ‚Feindschaft’“ freigesetzt und der Gleichheitsanspruch der Demokratie als zentrale Prämisse des friedlichen politischen Konflikts untergraben. Populisten seien Folge und nicht Ursache des Problems der repräsentativen Demokratie.
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Aus der Annotierten Bibliografie

 

 


zum Thema
Demokratie gestalten – zum Verhältnis von Repräsentation und Partizipation

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