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Die G20 als Knotenpunkt globaler Politiknetzwerke? Divergierende Einschätzungen zur Rolle der Gipfeldiplomatie in der Krise

09.06.2017
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Björn Wagner, Diplom-Politologe

Der Kreuzknoten als Symbol der Vernetzung. Foto: PixabayDer Kreuzknoten als Symbol der Vernetzung.
Foto: Pixabay
Jonathan Luckhurst und Roman Goldbach untersuchen die infolge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise ausgelösten Veränderungsprozesse im Hinblick auf die Regulierung der globalen Finanzmärkte. Zwar gehen sie vergleichbaren Fragestellungen nach, doch in der Gegenüberstellung beider Bände zeigen sich die jeweiligen Chancen und Grenzen, die schon mit der konkreten Ausformulierung des Forschungsinteresses verbunden sind. Um eines bereits vorwegzunehmen: Die differenzierte Ausarbeitung ineinandergreifender Problemlagen und Einflussmechanismen, in die Goldbach seine Analyse einordnet, deckt schonungslos die Beschränkungen einer übersimplifizierten Forschungsfrage auf, wie sie Luckhurst in seinem Buch verfolgt.

Der britische Wissenschaftler Luckhurst, Associate Professor für Internationale Beziehungen an der University of Guadalajara (Mexico), richtet sein Augenmerk ausschließlich auf die Rolle der G20. In diesem Zusammenhang positioniert er sich innerhalb einer Debatte über deren aktuelle Rolle und demokratische Legitimität. Ohne diese aber weiter aufzugreifen, bildet der Nachweis, dass die G20 seit dem Abklingen der Finanzkrise nicht nur keinerlei Relevanz verloren habe, sondern umgekehrt zu einem „Knotenpunkt globaler Governance-Netzwerke“ (3) geworden sei, das Hauptanliegen seiner Studie. Diesen Nachweis versucht er mittels einer Interview- und dokumentengestützten Analyse mehrerer (Re-)Regulierungsprozesse der internationalen Finanzmärkte zu erbringen.

Entgegen allgemeiner Befürchtungen zu den Hochzeiten der Krise ist es, so argumentiert Luckhurst, nicht zu einem Rückzug in den nationalen Protektionismus gekommen. Vielmehr habe die Krise den Blick der beteiligten Akteure für globale ökonomische Interdependenzen und deren Folgewirkungen geschärft, die sich nur gemeinschaftlich in den Griff bekommen ließen. Eine der positivsten Entwicklungen sei dabei sicherlich die stärkere Einbeziehung gerade der Länder des globalen Südens in die Entscheidungsfindung. Während lange Zeit die Ansicht dominiert (und sich auch in der Praxis der jeweiligen Foren ausgedrückt) habe, diese seien ausschließlich Policy-Taker, deren Erfolg sich vorrangig am Grad der Umsetzung der vom ökonomisch erfolgreichen Westen vorgegebenen wirtschaftspolitischen Rezepte messen lasse, habe die (partielle) Infragestellung eben dieser Rezepte und deren Rolle als Mitverursacher der Krise zu einer neuen größeren Offenheit gegenüber den Anliegen und Problemen der Länder des globalen Südens und infolgedessen zu deren stärkerer Berücksichtigung im Entscheidungsprozess geführt.

Dieser Aspekt steht generell im Zentrum von Luckhursts Argumentation: Eine der augenscheinlichsten Entwicklungen seien die ideellen und normativen Auswirkungen der Finanzkrise auf die G20 gewesen. Die stärkere Berücksichtigung der Interessen der Länder des globalen Südens sowie die fatalen Auswirkungen des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus hätten eine neue Offenheit etwa gegenüber Kapitalkontrollen, keynesianischer Fiskalpolitik und allgemeiner einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte nach sich gezogen. Weit davon entfernt, einen Paradigmenwechsel darzustellen, lasse sich doch mindestens von einer „regime contestation“ (272) sprechen, was nicht zuletzt an den graduellen Reformen der internationalen Finanzinstitutionen (insbesondere des Internationalen Währungsfonds) ersichtlich werde. Insgesamt hätten die erhöhte Aufmerksamkeit für die Rolle der G20 sowie ihre erweiterte politische Agenda im Rahmen der Krisenbekämpfung das Gremium zu einem der zentralen Knotenpunkte globaler Regulierungsnetzwerke werden lassen.

Luckhurst kommt dabei insbesondere das Verdienst zu, auf der Basis ausführlicher Interviews die politischen und normativen Sozialisationsmechanismen gerade und vor allem jenseits der im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Gipfeltreffen nachzuzeichnen. Die G20 lasse sich, so der Autor, insbesondere mit Blick auf ihre zahlreichen Unter- und Koordinationsforen stärker als informeller Club denn als klassische internationale Institution verstehen. Dazu trage auch die Tatsache bei, dass sich zumindest in den vergangenen Jahren kein einziger Mitgliedstaat habe finden lassen, der die politische Agenda überproportional dominiert habe. All das ziehe schließlich auch weitere positive Nebeneffekte nach sich: Obgleich die G20 sich in erster Linie als Finanzmarkt-Forum verstehe, führten der lose Club-Charakter und die damit verbundenen politischen Sozialisationsprozesse auch zu einer Verhinderung beziehungsweise Entschärfung diplomatischer Spannungen, was Luckhurst an den Beispielen der Ukraine- und der Syrien-Krise aufzeigt. Alles in allem liefert der Autor somit eine instruktive Studie, die vor dem Hintergrund einer ausführlichen Dokumentenanalyse sowie zahlreicher Interviews vor allem mit Blick auf die genannten ideellen und normativen Sozialisationsprozesse eine Leerstelle in der Literatur füllt.

Dennoch lassen sich einige fundamentale Schwachstellen der Studie ausmachen. Zum einen ist fraglich, inwieweit sich die Behauptung eines globalen Knotenpunktes wirklich bestätigen lässt, wenn die G20 weitgehend isoliert von anderen globalen politökonomischen Prozessen und Institutionen behandelt wird. Luckhursts Ansatz geht – darin selbst sehr normativ geprägt – von einer objektiven Problemlösungsorientierung aus. Banal formuliert: Internationale Kooperation ist gut, mehr internationale Kooperation ist besser. Dem lässt sich prinzipiell sicher wenig entgegensetzen. Inwiefern aber auch Macht- und Interessenkonflikte eine Rolle spielen, wird im Buch – wenn überhaupt – nur ganz am Rande thematisiert. Der Einschluss bestimmter Interessen und Positionen ist aber zwangsläufig immer gleichbedeutend mit dem Ausschluss anderer Interessen; Sozialisationsprozesse können dabei im positiven Sinne Konflikte entschärfen, umgekehrt aber auch bestehende Macht- und Einflussverhältnisse zementieren und damit neue Konflikte schüren. Derlei Fragen kann Luckhurst aus seinem eng formulierten Erkenntnisinteresse heraus aber kaum berücksichtigen. Grundsätzlich ist ihm das nicht vorzuwerfen – dann sollte aber auch die zentrale Aussage der Studie etwas weniger umfassend und allgemein formuliert werden. Hinzu kommt schließlich die Tatsache, dass die Einigung auf eine wirtschaftspolitische Position beziehungsweise ein konkretes Reformpaket noch lange nicht gleichbedeutend mit seiner Umsetzung ist, so ehrenhaft die Motive im Einzelfall auch gewesen sein mögen.

Gerade das Zusammenspiel nationaler, transnationaler und internationaler (privater wie öffentlicher) Interessen trägt dazu bei, dass die ursprüngliche Intention globaler Vereinbarungen und Reformen im Rahmen der Ratifizierungs- und Umsetzungsprozesse oftmals bis zur Unkenntlichkeit verwässert wird, wie der promovierte Politikwissenschaftler Roman Goldbach, der bei der Deutschen Bundesbank (Department of Banking and Financial Supervision) tätig ist, in seinem Buch zeigt. Er formuliert seine Fragestellung differenzierter als Luckhurst: Sein Interesse gilt nicht allein dem Ausmaß internationaler Kooperation, sondern insbesondere den Auswirkungen, die sich durch die verstärkte Transnationalisierung der Regulierung von Finanzmärkten für die Rahmenbedingungen ergeben, unter denen unterschiedliche Akteure ihre Interessen artikulieren und einbringen können. Dabei zeichnet der Autor zunächst ein differenziertes Bild der Macht- und Interessenstrukturen in der globalen politischen Ökonomie nach. Die zunehmende ökonomische Globalisierung habe insbesondere seit den 1970er-Jahren zur Herausbildung dessen geführt, was Philip Cerny als Wettbewerbsstaat bezeichnet habe. Unter dem Einfluss fiskalischer Zwänge und einer neoliberalen Ideologie habe sich, auch vor dem Hintergrund einflussreicher ökonomischer Akteure, der tendenziell globale Abbau von Marktbarrieren sowie die Reduzierung ökonomischer Transaktionskosten als zentrales Staatsziel etabliert – auch und gerade auf Kosten öffentlicher und Wohlfahrtsinteressen. Dies habe in der Folge auch die Stärkung des politischen Einflusses (transnational agierender) ökonomischer Akteure nach sich gezogen. Bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust der staatlichen Regulierungspotenziale habe dies in der Konsequenz zur Herausbildung eines „transnationalen Regulationsregimes“ (Transnational Regulatory Regime, TRR, 45 ff.) geführt, in dem sich nationale, transnationale und internationale Einfluss- und Entscheidungsprozesse überlappten, ohne dass die dabei tendenziell konkurrierenden Regulationsstandards durch eine übergreifende Autorität miteinander in Einklang gebracht werden könnten. Dabei spielen nach Erkenntnis des Autors insbesondere zwei Prozesse der Schichtung (layering) eine Rolle: zum einen institutionell, indem unterschiedliche Regelungsmechanismen parallel nebeneinander existieren, und zum anderen prozessual, indem in unterschiedlichen Settings und Stadien der Regulierung verschiedene Interessen, Einflüsse und Machtverhältnisse zum Tragen kommen. Wie Goldbach für den Fall der Bankenregulierung zeigt (insbesondere für die Basel II- und Basel III-Abkommen), führt aus diesem Grunde mehr transnationale Kooperation nicht automatisch zu effektiverer Regulierung. Das gegenwärtige globale Regulationsregime lasse sich vor allem durch das Auftreten von governance gaps und regulatory failure charakterisieren. Abstrakt formuliert lässt sich der politökonomische Prozess dabei folgendermaßen zusammenfassen (vgl. auch 15): 1. Initiierung eines globalen Harmonisierungsprozesses durch einen oder mehrere politische Akteure; 2. Standardsetzung durch ein transgouvernementales Netzwerk; 3. selektive Intervention durch nationale ökonomische und politische Interessen; 4. selektive Intervention durch transnationale ökonomische und politische Interessen; 5. das kombinierte Zusammenspiel dieser Einflussfaktoren und Machtverhältnisse schwächt letztlich die politischen Regulationskapazitäten und führt zu einem Ergebnis, das entgegen der ursprünglichen Intention nicht mehr im öffentlichen Interesse liegt, sondern vor allem die Interessen transnational agierender privatwirtschaftlicher Akteure überproportional berücksichtigt.

Festzuhalten bleibt dabei vor allem, dass im Rahmen dieses Prozesses die jeweiligen Opportunitätsstrukturen für unterschiedliche Interessen und Einflusskonstellationen nachhaltig verändert werden. Statt also, so lautet Goldbachs zentrales Argument, bestehende Regulationslücken zu schließen, führt die Ausweitung transnationaler Regulierungsstandards letzten Endes zu einer Diffusion partieller Regelwerke und unterläuft somit zugleich die politischen Kapazitäten, um den daraus entstehenden neuen Regulierungsbedarf zu decken. Anders formuliert: Transnationale Regulierung verstärkt bestehende Machtasymmetrien und untergräbt damit das ursprüngliche Ziel finanzmarktbezogener Stabilisierungsmechanismen.

Einig sind sich Goldbach und Luckhurst zumindest in dem folgenden Punkt: Der Einfluss der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise hat zwar nicht zu einem politischen Paradigmenwechsel geführt, jedoch trans- und internationale Kooperationsbemühungen beschleunigt. Ähnlich wie Luckhurst beobachtet auch Goldbach eine stärkere Fokussierung auf die G20 im Rahmen der globalen Finanzmarktregulierung. Anders als dieser lokalisiert er diese jedoch in einem weitaus umfassenderen Netzwerk von Interessen und Akteuren und verortet sie als einen von mehreren Brennpunkten im Rahmen einer globalen Macht- und Interessenstruktur. Was lässt sich nun aus Goldbachs Analyse schlussfolgern? Kann die Lösung nur in einer Rückkehr zu nationalen Entscheidungsprozessen liegen (sofern diese angesichts veränderter Opportunitäts- und Einflussstrukturen überhaupt noch möglich wäre)? Diese Frage steht nicht im Zentrum der Studie, da sich sein Interesse vor allem darauf konzentriert, bestehende Regulierungslücken und -misserfolge zu erklären. Der Autor weist aber darauf hin, dass es vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse primär darum gehen muss, politische Kontrollinstrumente zu entwickeln, die die unterschiedlichen Regelungs- und Koordinierungsebenen miteinander in Einklang bringen können. Wie das geschehen könnte, lässt Goldbach aber leider offen.

 

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Bibliografische Angaben

Roman Goldbach

Global Governance and Regulatory Failure. The Political Economy of Banking

Houndmills, Basingstoke, Hampshire, Palgrave Macmillan 2015 (International Political Economy Series)

Jonathan Luckhurst

G20 Since the Global Crisis

Palgrave Macmillan US 2016

 

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