Skip to main content
Marcin Zaremba

Die große Angst. Polen 1944-1947. Leben im Ausnahmezustand. Übersetzt von Sandra Ewers

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016; 629 S.; 49,90 €; ISBN 978-3-506-78093-5
Die (historische) Emotionsforschung als kulturwissenschaftlich motivierter Zugriff auf Geschichte und Politik hat in den vergangenen Jahren einen starken Aufschwung erlebt (siehe etwa Buch‑Nr. 38386 und 47110). Der Warschauer Historiker und Soziologe Marcin Zaremba wählt diesen Ansatz, um ein Deutungsangebot der polnischen Geschichte in der Zeit zwischen dem Einmarsch der Roten Armee in der zweiten Jahreshälfte 1944 und den Parlamentswahlen im Januar 1947 vorzulegen. Ausgehend vom Grundgefühl der „Angst“ (der Titel des vieldiskutierten und mehrfach ausgezeichneten polnischen Originals von 2012 lässt sich auch als „Die große Furcht“ übersetzen; beide Begriffe werden synonym gebraucht) als gesamtgesellschaftlichem Phänomen entsteht so die umfassende Alltags‑ und Sozialgeschichte eines Landes und seiner Bevölkerung nach jahrelangen Gewalterfahrungen in Krieg und Besatzung. Der Autor arbeitet vor allem auf der Basis unveröffentlichter Archivquellen, von Egodokumenten wie Tagebüchern, Memoiren und Briefen sowie der zeitgenössischen Publizistik. Es gelingt ihm damit, „kollektive Einstellungen zu erläutern und die Genese der zahlreichen Unruhen und Proteste jener Zeit, der Hungerrevolten und antisemitischen Pogrome aufzuzeigen“ (23), die er in der Hauptsache auf starke psychische und materielle Herausforderungen zurückführt. Eindrücklich und ausführlich schildert er die Auswirkungen von Plünderungen, Banditentum und kommunistischer Terrorpolitik. Positiv konnotierte Entwicklungsstränge wie Wiederaufbau und Aufbruchsoptimismus nach dem Krieg blendet der Autor dagegen aus, da er sie in der bisherigen Forschung ausreichend behandelt beziehungsweise überbetont sieht. In einem skizzenhaften Schlusskapitel nimmt Zaremba an, dass die „große Angst“ „nicht 1947 [endete], sondern […] sich in das Gedächtnis des Volkes ein[schrieb]“. Bedrohungen durch Deutsche und Juden seien in Teilen der Bevölkerung mindestens bis zum politischen Umbruch von 1989 empfunden worden, die „Angst vor Russland […] ist im Bewusstsein der Polen bis heute präsent“ (501) – Faktoren, die es bei einer Analyse der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Polen zu berücksichtigen gilt.
{MUN}
Rubrizierung: 2.612.254.1 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Marcin Zaremba: Die große Angst. Paderborn: 2016, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39715-die-grosse-angst_48271, veröffentlicht am 26.05.2016. Buch-Nr.: 48271 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken