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Die internationale Ordnung. Bestandsaufnahme und Ausblick

21.04.2020
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Prof. Dr. em. Hanns Maull

pax britannicaPax Britannica im späten 19. Jahrhundert / via Wikimedia Commons

 

1 Einleitung

„Die Welt ist aus den Fugen“: Diese Beobachtung thematisierte der jetzige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schon zu seiner Zeit als Außenminister häufig. Dabei mag ihn auch das ursprünglich 2014 erschienene Buch von Henry Kissinger mit dem Titel „Weltordnung“ inspiriert haben: Erkennbar beunruhigte den Doyen der amerikanischen Diplomatie und ihrer Geschichte schon damals der Zustand der internationalen Ordnung.1 Seither ist die internationale Politik freilich noch wesentlich turbulenter und unruhiger geworden. Unter Fachleuten und Praktikern bestehen kaum noch Zweifel daran, dass die Weltpolitik einen tiefgreifenden Umbruch erfährt und sich die westlich dominierte „liberale internationale Ordnung“ der Nachkriegszeit (die Pax Americana) aufgelöst hat.2 Sie wird derzeit von einer neuen, bislang allerdings nur schemenhaft und in Umrissen erkennbaren Ordnung abgelöst.

Im vorliegenden Beitrag wird diese Entwicklung genauer untersucht. Dabei gilt es zunächst, den Begriff der „internationalen Ordnung“ zu klären: „Die internationale Ordnung“ wird hier als eine spezifische Ausprägung der Kategorie politischer Ordnungen verstanden, die andere Ordnungen umfasst und mit diesen in Wechselwirkungen steht. Politische Ordnungen im allgemeinen und die internationale Ordnung im Besonderen lassen sich beschreiben anhand den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien, Normen, Werten und Institutionen und bewerten mit Blick auf ihre Autorität, Legitimität und Effektivität.

In einem zweiten Schritt untersucht der Text, wie die gegenwärtige internationale Ordnung historisch entstanden ist, wie sie sich im Einzelnen entwickelt hat und welche Triebkräfte diesen Entwicklungspfad bestimmt haben. Dabei stehen die drei Dekaden seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes im Mittelpunkt. In diesem Zeitraum erlebte die internationale Ordnung zunächst eine Phase der Konsolidierung und dann signifikante Fortschritte; kurz nach Beginn dieses Jahrhunderts kehrten sich diese positiven Entwicklungen jedoch um, und es begann ein sich beschleunigender Prozess der Erosion der internationalen Ordnung. Die wichtigsten Triebkräfte waren dabei erstens die sich beschleunigende Dynamik der technologischen Innovation und ihre Auswirkungen, die das Stichwort „Globalisierung“ zusammenfasst, zweitens die strukturelle Überforderung der Politik auf allen Ebenen der internationalen Ordnung durch die Wucht des sozialen Wandels und drittens das Agieren der wichtigsten internationalen Ordnungsmacht, der USA. Während die internationale Ordnung nach 1990 vom weltgeschichtlichen Rückenwind des Endes des Ost-West-Konfliktes, aber auch von einer in vieler Hinsicht konstruktiven Führungsrolle der USA profitierte, richtete die amerikanische Außenpolitik in den ersten vier Amtsjahren von Präsident George W. Bush (2001 bis 2005) massive Schäden an, die systemische Auswirkungen zeitigten. Diese Schäden konnten die USA in der zweiten Amtszeit von George W. Bush nicht mehr revidieren, und auch seinem Nachfolger Barack Obama (2009 bis 2017) gelang es nicht, die internationale Ordnung nachhaltig zu reparieren. Dabei spielte auch eine Rolle, dass sich weder die europäischen Verbündeten der USA noch die Volksrepublik China hinreichend für eine Re-Stabilisierung der internationalen Ordnung einsetzten. Den europäischen Verbündeten gelang es nicht, die Europäische Union als handlungsfähige internationale Ordnungsmacht zu etablieren, während Chinas Unterstützung für die bestehende internationale Ordnung ambivalent blieb. Der Text schließt mit einigen Überlegungen dazu, welche Implikationen der gegenwärtigen Verfassung der internationalen Ordnung und der dominierenden Trends für die Zukunft haben könnten.

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1 Kissinger 2014, Kissinger 2016.
2 Haass 2017; Acharya 2018, Krause 2017, Kagan 2018, Mandelbaum 2019.

weiterlesen

 

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Der vollständige Beitrag ist erschienen in SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 4, Heft 1, Seiten 3-23, eISSN 2510-2648, ISSN 2510-263X, Online erschienen am 31.03.2020: https://www.degruyter.com/view/journals/sirius/4/1/article-p3.xml

 

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Rezensionen

Matthias Herdegen

Der Kampf um die Weltordnung. Eine strategische Betrachtung von Macht und Recht

München, C. H. Beck 2019

Stehen wir vor dem Heraufziehen einer neuen Weltordnung? Diese Frage stellt Matthias Herdegen in den Mittelpunkt seiner Analyse, die er sowohl aus politikwissenschaftlicher als auch aus juristischer Perspektive beleuchtet. Dabei stellt er gängige Theorien der internationalen Politik dar, erläutert seine Vorstellungen vom Begriff der Macht und beschreibt die Inhalte einer internationalen Ordnung. Bei der Lektüre wird nach Meinung des Rezensenten die Skepsis des Autors an der derzeitigen kontinentaleuropäischen Außenpolitik deutlich.

 

Carlo Masala

Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens

2., überarb. und erw. Auflage, München, C. H. Beck 2018

Bürgerkriege, Pandemien, Flüchtlingsbewegungen – die Welt befindet sich in Unordnung und dafür sind nach Ansicht von Carlo Masala die westlichen Staaten durchaus mitverantwortlich: Mit Interventionen und Nation Building hätten sie versucht, ihr liberales System zu exportieren, seien aber damit wiederholt gescheitert und hätten den jeweiligen Staaten vor allem geschadet. Moralische Grundsätze in der Außenpolitik umsetzen zu wollen, hält der Autor für nicht sinnvoll. Er plädiert daher aus deutscher Sicht für eine nüchterne, interessengeleitete Außenpolitik.


Aus der Annotierten Bibliografie

Sebastian Harnisch / Hanns W. Maull / Siegfried Schieder (Hrsg.)

Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung. Beiträge zur Soziologie der internationalen Beziehungen

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2009; 433 S.; kart., 34,90 €; ISBN 978-3-593-38875-5
Die Verdichtung politischer Macht und gesellschaftlicher Beziehungen auf internationaler Ebene bewegt die Forschergemeinschaft seit geraumer Zeit, nach überstaatlichen Substituten für nationale Institutionen Ausschau zu halten. Nach den eher politikwissenschaftlichen Konzepten des Rechtsstaats und der Demokratie soll mit diesem Band nun auch die klassische soziologische Kategorie der Solidarität für die Internationalen Beziehungen erschlossen werden: Existieren Gemeinsinn und Reziprozität auf tr...weiterlesen

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