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Liao Yiwu

Die Kugel und das Opium. Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2012; 430 S.; geb., 24,99 €; ISBN 978-3-10-044815-6
„Die Zahl der Toten von Tian’anmen wurde nie veröffentlicht und ist nicht bekannt“, schrieb jüngst Salman Rushdie („Joseph Anton“, 2012), „Erinnerung ist die einzige Verteidigung gegen brutale Schonungslosigkeit. Dass die Erinnerung ihr Feind ist, wusste auch die chinesische Führung. Es reichte nicht, die Protestierenden umzubringen. Man sollte sich ihrer fälschlich als Abweichler und Verbrecher erinnern, nicht als tapfere Studenten, die ihr Leben für die Freiheit ließen“ (216 f.). Liao Yiwu, der 1989 für sein Gedicht „Massaker“ für vier Jahre verhaftet und schwer misshandelt wurde und jetzt in Deutschland lebt, stellt dieser Lüge die Erinnerungen der Protestierenden entgegen, sie verstanden ihren Aufstand als patriotische Demokratiebewegung. Er arbeitete Jahre daran, für dieses Buch Überlebende heimlich zu treffen, um sie über ihre Motive, Beobachtungen und Erfahrungen interviewen zu können. Im Anhang findet sich außerdem eine Liste mit 202 namentlich bekannten Todesopfern des Massakers am 3. und 4. Juni 1989 sowie eine weitere mit Verletzten. Die tatsächliche Zahl der Opfer ist auf mehrere Tausende zu schätzen. Zusammen mit den Interviews fügt sich ein grausames Bild zusammen, die Soldaten schossen die unbewaffneten Demonstrierenden wahllos nieder. „In der Diktatur gibt es außer der Unterdrückung keine Mechanismen für den Dialog mit dem Volk“ (262), sagt Li Hai, der 1989 für neun Jahre inhaftiert wurde. Wer zuerst fliehen konnte, wurde Tage oder Wochen später am Arbeitsplatz oder in der Universität verhaftet. Wer Jahre später mit den Narben schlimmster Folter auf Seele und Haut aus der Haft entlassen wurde, war stigmatisiert – die chinesische Gesellschaft war in der Zwischenzeit vom Regime durch die marktwirtschaftliche Öffnung ruhig gestellt worden und wollte in Ruhe ihr Geld verdienen. Wie unerbittlich das kommunistische Regime diese Strategie des Machterhalts verfolgt, zeigt die erneute Verhaftung von Li Bifeng, den Liao im Gefängnis kennenlernte. Li ist im Herbst 2012 unter dem Vorwand der Wirtschaftskriminalität zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. In seinem Appell zur Freilassung (http://www.literaturfestival.com/intern/lost-and-found/copy_of_YiwuAppelldeut.pdf) schreibt Liao, dass Li eigentlich vorgeworfen wird, ihm bei seiner Flucht aus China 2011 geholfen zu haben. Mit der Verurteilung würde das „Leben eines hoch talentierten Dichters und Schriftstellers [...] völlig zerstört“. – Auf die Frage, was ihm am nächsten ist, antwortet Li Hai: „Der 4. Juni. Das ist gestern. Das ist gestern, für immer.“ (259)
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.682.252.22 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Yiwu Liao: Die Kugel und das Opium. Frankfurt a. M.: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/9201-die-kugel-und-das-opium_43142, veröffentlicht am 17.01.2013. Buch-Nr.: 43142 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken