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Die liberale Demokratie in der Feuerprobe. Osteuropäischer Rechtspopulismus in Zeiten von Brexit und Corona

20.04.2020
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Dipl.-Jur. Tanja Thomsen, M.A.

ungarisches parlamentsgebaeude budapestDas ungarische Parlamentsgebäude in unruhiger Wetterlage, Foto: Bruno Coelho / Pixabay

 

Die westlichen Kernländer der Europäischen Union seien und blieben das Vorbild, dem sich die Beitrittsländer anzupassen hätten, so lautet die gängige Meinung. Doch wie verhalten sich eigentlich die Menschen in Osteuropa dazu – etwa, wenn es um die historische Legitimation der europäischen Einigung geht? Nationalkonservative Populisten locken zwar enttäuschte Wähler*innen in ganz Europa mit dem Versprechen von Gerechtigkeit zur Wahlurne, wonach es genüge, die moralisch verkommenen Eliten nach Neoliberalismus und Bankenkrise zur Rechenschaft zu ziehen und das Volk aus seiner Unmündigkeit wieder zur Souveränität zu erheben. Für die Transformationsgesellschaften Mittel- und Osteuropas bedeuten Rechtspopulisten an der Macht neben einer gefährlichen Aushöhlung des Pluralismus in den staatlichen Institutionen vor allem die Verdrängung der Transformationsverlierer aus der rationalen Politik. Dennoch scheint rechtspopulistischen Vertretern mancherorts das eristische Meisterstück zu gelingen, in Teilen der Bevölkerungen den Zweifel bezüglich einer bestimmten Frage zugleich zu einem Ausdruck von Freiheit, Identität und Selbstbewährung zu erhöhen: Nämlich danach, ob dem Pluralismus und der vertieften Integration auf der Ebene der gemeinsamen Union eigentlich überhaupt noch die Bedeutsamkeit zukommen dürfe, die sie einst für die Gründerstaaten der Gemeinschaft besessen hätten, während sich doch Aufgaben und Werte der aktuellen Union nun angesichts bevorstehender Herausforderungen und Krisen auch nach Maßgabe der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten verschieben würden. Mit diesem Digirama stellen wir Texte vor, die sich mit der Auslegung von Demokratie und Werten der künftigen Union innerhalb der Regierungssysteme Osteuropas befassen.

(Die Beiträge sind in chronologisch absteigender Reihenfolge sortiert.)

 

Sławomir Sierakowski
Populists Love the Pandemic
DGAP, Externe Publikation, 30. März 2020

Sławomir Sierakowski skizziert in seiner Analyse, wie populistische Regierungen in Polen, Ungarn und anderen Ländern jüngst die Kontrollfunktion der Opposition als Folge der Covid-19-Krise maximal einschränken und dies auf höchst unterschiedliche Art und Weise: Während die ungarische Opposition gegen das „Ermächtigungsgesetz“ Viktor Orbáns protestiere, verlange die Opposition in Polen nach einem Notstand. Kaczyński und seine PiS hingegen wollten auf gar keinen Fall jene Wahl gefährden, die den Präsidenten Andrzej Duda am 10. Mai weiter im Amt halten werde, während die Opposition im Corona-Lockdown paralysiert sei.


András Rácz
Viktor Orbán’s Hungary
DGAP, Externe Publikation, 26. März 2020

András Rácz stellt in seinem Kommentar die Architektur der neuen Notstandsgesetzgebung der populistischen Regierung in Ungarn vor dem Hintergrund gegenwärtiger Checks & Balances sowie tatsächlicher Mehrheitsverhältnisse vor: Hierbei handele es sich um eine klare Verletzung des Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union und der hierdurch geschützten Werte wie dem Vorrang des Rechts, sollte der ungarische Premierminister auch nach der Pandemie an diesen außerordentlichen Machtbefugnissen festhalten wollen. Der Kommentator warnt davor, dass die EU in dem Fall, dass andere Mitgliedstaaten Ungarns Beispiel folgten, schnell an den Punkt gelangen könnte, an dem aus dem Kampf gegen COVID-19 eine Abfolge von Einschränkungen der fundamentalen Freiheiten und Menschenrechte als wesentlichen Gründungsprinzipien erwüchsen, und verweist diesbezüglich auf die kommenden Berichte zu allen Mitgliedstaaten, die im zweiten Halbjahr 2020 unter der EU-Präsidentschaft Deutschlands zu erwarten seien.


Ivan Krastev
Der Osten hat sich entliebt
IPG-Journal, Interview, 21. Februar 2020

Ivan Krastev blickt in die Vergangenheit zurück und stellt im Gespräch über die Krise der Demokratie in Europa und über die Wurzeln des neuen postpopulistischen Liberalismus im Osten Europas unter anderem die Hypothese auf, dass sich im Jahr 1989 der Osten in den Westen verliebt hätte und dieser sich, zum Teil aus diesem Grund, in sich selbst: Westliche politische Akteure hätten über der Tatsache, dass sich der Osten nach dem Vorbild des Westens neu erfinden habe wollen, die kritische Perspektive auf die Mängel ihrer eigenen Gesellschaften eingebüßt. Die Voraussetzungen dafür, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die liberale Demokratie wiederherzustellen, sei die Erneuerung des Wirtschaftsmodells, in der die Demokratie den Kapitalismus auch im 21. Jahrhundert wieder zu zähmen vermöge.


Jarosław Flis
Die Parteien nach den Parlamentswahlen. Die politische Szene sortiert sich neu
Polen-Analysen Nr. 251, 18. Februar 2020

Jarosław Flis analysiert in einer Innenansicht für Polen, wie die Belastung der PiS mit zahlreichen Affären und ihre augenscheinliche Übertreibung beim Auflegen sozialer Programme dazu geführt haben, dass noch eine fünfte Gruppierung in den Sejm einzogen ist, die Konföderation: Diese greife die PiS aus einer radikaleren Position in Identitätsfragen an und zeige gleichzeitig eine stark marktorientierte Haltung.


Karl Schlögel
„Denken ohne Geländer“ Dreißig Jahre nach der Wende
Osteuropa, Dezember 2019

Karl Schlögel tut sich in seinem Beitrag angesichts der Lage der Demokratien in Osteuropa betont schwer mit dem, was er als übereilte Generalisierungen und Gewissheiten bezeichnet, die theoretische Modelle und Paradigmen zu bieten scheinen: Nachkriegswelt, Nach-Kalte-Kriegs-Welt, polyzentrische, postliberale, autoritäre post-post-moderne Welt. Der Autor lädt daher zu einem phänomenologisch beobachtenden und analysierenden Zugang im Unterschied zum Denken in Modellen, Paradigmen oder Idealtypen ein: Während Europas autoritäre Populisten behaupteten, es habe das Wunder von 1989 nicht gegeben, nennt Schlögel alles, was ab der Perestrojka geschah und 1989 kulminierte, unglaublich, unerhört und voller Illusionen – aber eben keine Illusion an sich. Seitdem seien in Europa Menschen und ganze Gesellschaften, Räume und Kulturen, Politik und Wirtschaft in Bewegung, wenn auch anders, als es die Sozialwissenschaften mit ihren linearen Konzepten und Theorien der Transformation vorhersagten. All dies basiere nicht so sehr auf der Übernahme von externen Lehren, sondern weit mehr auf den spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Volkswirtschaften. Die Prozesse, um die es dabei gehe, hätten folglich den analytischen Rahmen der gewohnten westlichen Standardkonzeptionen unterlaufen und gesprengt. Dies gelte es zu bedenken – auch und gerade bezüglich von Fragestellungen, wonach Generationen und Gesellschaften, die bereits durch die Katastrophen gegangen sind, trotz gegenläufiger Meinungen nicht automatisch immun seien gegen Aggressivität, Xenophobie, Hass, Gewalt, Intoleranz und andere Sünden der Vergangenheit.


Sławomir Sierakowski
Gangster, Überzeugungstäter, Pragmatiker
Internationale Politik, 01. November 2019

Um zu verstehen, warum Populismus in Polen und Ungarn so erfolgreich ist, lädt Sławomir Sierakowski in seinem Essay dazu ein, tiefer in die Geschichte, Politik und Traditionen Osteuropas einzusteigen. Hierin sieht der Autor Lernpotenzial dafür, wie man sich dieser Entwicklung entgegenstellen könne: Als der ungarische Premierminister Orbán zum Beispiel im Juli 2014 seine Absicht erklärte, eine „illiberale Demokratie“ zu errichten, wurde gemeinhin angenommen, er würde gewissermaßen einen „Illiberalismus in einem Land“ erschaffen. Mittlerweile haben Orbán und Kaczyński eine Konterrevolution ausgerufen, die darauf abzielt, die Europäische Union in ein illiberales Projekt zu verwandeln. Das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich zeigte, dass in der heutigen EU die von illiberalen Demokraten bevorzugte Form des Diskurses – Lügen und Verleumdungen – politisch und beruflich zum Erfolg führen könne. Gefahr müsse dabei nicht real sein, schon eingebildete Bedrohung reiche aus. Polnischer Antisemitismus ohne Juden, Antikommunismus ohne Kommunisten und eine Antiflüchtlingshaltung ohne Flüchtlinge seien gute Beispiele hierfür.

 

Jan Marinus Wiersma
The inheritance of 1989
Clingendael, Netherlands Institute for International Relations, 12. November 2019

Jan Marinus Wiersma geht in seiner Analyse ebenfalls für die Erklärung der Gegenwart in die Vergangenheit zurück und beleuchtet in einem Überblick, was er ‚problems of imitation‘ nennt: „They wished their countries to become ‚normal‘, which meant like the West...“ Dass dies in Ungleichheit und in der Unterstützung illiberaler Konzepte mündete, habe unter Führungspersönlichkeiten wie Orbán kaum Raum für Säkularismus, Toleranz und Transparenz gelassen. Stattdessen würden christliche Werte, die traditionelle Familie und homogene Gesellschaften hochgehalten und als Werte einer neuen Union präsentiert. Die EU solle nun angesichts aktueller Probleme nach Ansicht vieler Rechtspopulisten und ihrer Anhänger anhand nationalistischer und religiöser Trennlinien umgestaltet werden.

 

Erik Jones
Populism in Europe: What Scholarship Tells Us
Survival: Global Politics and Strategy, Juli 2019

Erik Jones fasst zusammen, was Populismus in Europa für das Vertrauen in die Demokratien und ihre Institutionen bedeutet und greift dabei den antipluralistischen Charakter der Populismus-Definition Jan Werner Müllers auf: „in addition to being anti-elitist, populists are always anti-pluralist. Populists claim that they, and they alone, represent the people.” Hinzu komme das Erstarken von Identitätspolitik, sodass sich Unterstützer von Populisten selbst als Vertreter des wahren Volks im Gegensatz zu Eliten oder als gefährlich wahrgenommenen Fremden identifizierten. Diese Betonung von Identität trage bedenklich dazu bei, Konflikte durch Polarisierung, Furcht und Exklusion anzuheizen.

 

Albrecht von Lucke
70 Jahre Bundesrepublik: Die verunglückte Demokratie
Blätter für deutsche und internationale Politik, Mai 2019

Albrecht von Lucke untersucht den Moment der „Veröstlichung“ (Entdemokratisierung), wie ihn derzeit die Bundesrepublik erlebe: Mit dem Einzug der AfD ist erstmals seit Ende der 1950er-Jahre eine in erheblichen Teilen rechtsradikale Partei im Bundestag vertreten, die sich zudem seit ihrer Entstehung immer stärker radikalisiert. Längst fänden somit außenpolitische Tendenzen – Freund-Feind-Denken und Autoritarismus – auch im Inneren der Republik Gehör, schreibt der Autor.

 

Péter Krekó / Bulcsú Hunyadi / Patrik Szicherle
Anti-Muslim populism in Hungary: From the margins to the mainstream
Bericht, Brookings Institution, 24. Juli 2019

Bezüglich der Fragen von Identität und Zugehörigkeit untersuchen Péter Krekó, Bulcsú Hunyadi und Patrik Szicherle in ihrem 2019 erschienenen Bericht, wie anti-muslimischer Populismus in Ungarn im Verhältnis von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus durch Framing Eingang in den politischen Mainstream finden konnte.

 

Agnieszka Dudzińska / Michał Kotnarowski
Imaginary Muslims: How the Polish right frames Islam
Bericht, Brookings Institution, 24. Juli 2019

Obwohl der Anteil muslimischer Bürger*innen in Polen im Verhältnis zu anderen EU-Mitgliedstaaten vergleichsweise gering ist, befassen sich Agnieszka Dudzińska und Michał Kotnarowski damit, wie die Wahrnehmung von Muslimen seit der Parlamentswahl 2015 in Polen seitens rechtsextremer Parteien bisher instrumentalisiert wurde. Sie beginnen ihren Bericht mit einem Überblick über die aktuelle und vergangene Situation des politischen Systems Polens, um vorab zu eruieren, was eine rechtsextreme Partei in Polen determiniert. Dabei greifen sie auf semi-strukturierte Interviews mit rechtextremen Aktivisten und Volksvertretern, den Aktivitäten auf sozialen Medien, Statistiken, Parteidokumenten oder öffentlichen Redebeiträgen zurück.

 

Alina Polyakova et al.
The anatomyof illiberal states
Bericht, Brookings Institution, Februar 2019

Während Staaten wie Ungarn und Polen als bekannte Beispiele dafür gelten, wie illiberale Parteien und Führungspersönlichkeiten nach ihrer Wahl demokratische Institutionen des Rechtsstaats ebenso zu attackieren beginnen, wie den politischen Pluralismus und die Unabhängigkeit der Medien, zeigt sich für andere Länder wie Tschechien, Rumänien oder der Slowakei ein weniger bekanntes Bild, wie die Länderanalysen in diesem Brookings-Report zeigen: James Kirchick unternimmt den Überblick für Ungarn, Melissa Hooper skizziert die Entwicklung in Polen, Norman Eisen und Andrew Kenealy stellen ihre Ergebnisse zur Slowakei und zur Tschechischen Republik vor. Anschließend machen weitere Autor*innen Vorschläge, wie die Vereinigten Staaten sowie Institutionen und Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die NATO, die Zivilgesellschaft und der Privatsektor Rechtssicherheit und Demokratie weiterhin verteidigen können.

 

Magdalena Telus
Europa als „Wir“ und „Nicht-Wir“. Zum Europabild der polnischen Nationalkonservativen
Polen-Analysen Nr. 228, 18. Dezember 2018

Magdalena Telus beleuchtet das Europaverhältnis der in Polen seit 2015 regierenden und als ideologisch geltenden Nationalkonservativen: Die Nationalkonservativen Polens strebten angesichts der europäischen Integration im heutigen Europa mit ihren unscharfen Identitäten aufgrund einer vom Kommunismus konservierten Sehnsucht nach Grenzen, Vorgaben und der einen unumstößlichen Wahrheit. Sie bejahten Europa als christliche Zivilisation, täten sich jedoch schwer mit der Europäischen Union in ihrer derzeitigen Ausrichtung, der sie unter anderem Entwurzelung zum Vorwurf machten.

 

Silviu Mihai
Die „moralische Revolution“ des Viktor Orbán
Blätter für deutsche und internationale Politik, Juni 2018

Silviu Mihai umschreibt konträr dazu in seinem Beitrag die pragmatischere Vision des ungarischen Premierministers für die Europäische Union: Orbán wolle eine „moralische Revolution“ einleiten, die den nationalen „Mut“ aufbringt, sich von den internationalen Zwängen des Liberalismus zu emanzipieren und zu den traditionellen Werten zurückzukehren. Bereits kurz vor der Wahl habe Orbán der zivilgesellschaftlichen Opposition mit einer Abrechnung gedroht: So sollten etwa kritische NGOs und Vereine mit dem sogenannten Stopp-Soros-Gesetzespaket weiter unter Druck gesetzt werden. Orbán sprach nach seinem Wahlsieg nicht länger von einer „illiberalen“, sondern von der „christlichen Demokratie alten Stils“, die also nicht liberal sei. Grundsätzlich brauche Europa laut Orbán keine Einwanderer anderer „Kulturkreise“, die sich niemals integrieren ließen und eine unendliche Reihe strafrechtlicher, sicherheitsbezogener, sozialer und gesellschaftlicher Probleme verursachten. Wähler*innen in jedem Mitgliedstaat sollten zudem frei entscheiden können, wie und nach welchen Regeln sie leben wollen, ohne dass sich internationale Organisationen oder andere Staaten einmischten.

 

Jacob Parakilas / Thomas Raines
Exploring Transatlantic Responses to Far-right Populism in Europe: Simulation Exercise
Research Paper, Chatham House, The Royal Institute of International Affairs, 3. Mai 2018

Interessant vor dem Hintergrund der Entwicklungen rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien in Europa kann die Simulation „Exploring Transatlantic Responses to Far-right Populism in Europe“ des Chatham House sein, wonach der EU, den Vereinigten Staaten sowie multilateralen Vertretern die Aufgabe gestellt wurde, die Beziehung mit Baltia, einem fiktionalen osteuropäischen Staat, vor der Wahl einer rechtsextremen, nationalistischen und euroskeptischen Regierung zu gestalten. In der zweiten Stufe stellte die Simulation Baltia in ein situatives Setting, in dem eine solche Regierung den Austritt aus der Europäischen Union durch ein Referendum beabsichtigte. Obwohl juristische und bilaterale Instrumente hierbei im Ergebnis eine große Rolle spielten, unterstrich die Übung die Notwendigkeit eines weiter nuancierten Verständnisses der Ursachen eines sogenannten populist backlash, um demokratische Bollwerke innerhalb eines politisches Systems möglichst früh gegen entsprechende Herausforderungen zu schützen.

 

Milan Nič / Péter Krekó
Europas Quälgeist – Wie die EU und Deutschland mit Orbáns Wiederwahl umgehen sollten
Internationale Politik, 27. April 2018

Milan Nič und Péter Krekó sehen m Wahlsieg Viktor Orbáns von 2018 zugleich die Hoffnung des Populisten, eine euroskeptische Allianz in der EU zu schmieden, um noch mehr Einfluss auf den Kurs Europas zu gewinnen und die eigene Machtstellung zu sichern: Die Strategie, mit fremdenfeindlichen Parolen und einer Angstkampagne zum Thema Einwanderung zu polarisieren, läge erfolgreich im Trend rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien überall in Europa, siehe ähnliche Wahlerfolge in Italien und 2017 in Österreich und Deutschland. Im Vergleich zu den rechtsextremen Parteien jener Länder sei Orbán weitergegangen, indem mithilfe der staatlichen Medien eine Verschwörungstheorie durch Fidesz verbreitet wurde: Die ungarische Opposition und Zivilgesellschaft, die Vereinten Nationen, die Europäische Union und der amerikanisch-ungarische Investmentbanker George Soros hätten sich verschworen, um Ungarn in ein Einwanderungsland zu verwandeln. Ungarn laufe so Gefahr zum antidemokratischen Vorbild innerhalb der Union zu werden.

 

Alan Posener
Gegen den Strich: Europa – Fünf Thesen auf dem Prüfstand
Internationale Politik, 3. Januar 2018

Alan Posener erklärt in seinem Beitrag unter anderem, wieso es Orbán gelinge, seinem Rassismus den Mantel des Widerstands gegen die imperiale Arroganz des international-liberalen Westens umzuhängen und was pragmatisch dagegen zu unternehmen sei. Wie auch in Teilen Südeuropas vermischten sich hierbei antikapitalistische, sozialistische, konservative, nationalistische, antisemitische, antiamerikanische und antideutsche Stimmungen zu einem brisanten Konglomerat. Um Flüchtlinge ginge es dabei lediglich vordergründig, ansonsten im Grunde um den Liberalismus. Das Erstarken von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zeige daher auch das vorläufige Ende gewisser Illusionen der Westeuropäer auf: Jetzt sei daher zum Beispiel nicht die Zeit, ein Europa der Bürger zu fordern, in dem das Europäische Parlament die oberste Autorität innehätte und im Plenum absehbar jedoch Vertreter der Intoleranz die Mehrheit stellten. Auch die föderalistische Illusion habe sich erledigt, sodass Europa den umgekehrten Weg gehen müsse: Einen Wettbewerb der Werte zwischen illiberaler und liberaler Demokratie und dies in der Zuversicht, dass er sich auf Dauer weder als attraktiv noch als erfolgreich erweisen werde. Darüber hinaus müsse Europa vor allem Projekte in Angriff nehmen, die es nach Außen stärkten und für seine Mitglieder unverzichtbar machten.

 

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Rezension

Reinhold Vetter

Nationalismus im Osten Europas. Was Kaczynski und Orbán mit Le Pen und Wilders verbindet

Berlin, Ch. Links Verlag 2017 (Politik/Zeitgeschichte)

In Europa zeigt sich ein Nationalismus, der aus ideologischen Versatzstücken zusammengesetzt ist, dazu zählen Glorifizierungen von nationaler Homogenität, Traditionswerten und partikularen Leitkulturen einerseits und andererseits die Abwehr alles Fremden, sei es in Gestalt von Flüchtlingen, sei es in Gestalt eines kulturellen oder religiösen Pluralismus. Der Publizist Reinhold Vetter fragt nach den Gründen dieser nationalistischen Strömungen insbesondere in den ost- und mitteleuropäischen Staaten, ins Zentrum seiner Analyse stellt er die nationalkonservativen, populistischen und rechtsradikalen Parteien, die regieren und damit über politische Gestaltungsmacht verfügen.
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Digirama

Das Ende der liberalen Demokratie (?). Aktuelle Entwicklungen in Ostmitteleuropa

Mit der großen Flüchtlingsbewegung war der Bruch nicht mehr zu übersehen, ostmitteleuropäische Staaten wie Polen und Ungarn – Nutznießer der EU-Transferleistungen – weigern sich nach Kräften, ihre westlichen Partner bei der Versorgung der Flüchtlinge zu unterstützen. Von der Rückkehr nach Europa und zu seinen Werten, 1989 das Ziel dieser Staaten, scheint nichts übriggeblieben zu sein. Vorausgegangen waren in Warschau und Budapest Regierungsübernahmen durch Rechtspopulisten, die durch Eingriffe in die Unabhängigkeit von Justiz und Medien darauf zielen, die liberale Demokratie zu demontieren. Die Entwicklung wird in ausgewählten Analysen gespiegelt, neben Polen und Ungarn bildet dabei Tschechien einen weiteren Schwerpunkt. Der Betrachtungszeitraum reicht bis Ende 2018.
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Lektüre

Kamran Musayev.
Zwischen Demokratie und Autoritarismus. Transformationsszenarien im Baltikum und Südkaukasus
Frankfurt, Campus 2019

 

Marketa Spiritova / Katerina Gehl / Klaus Roth (Hrsg.)
Eigenbilder - Fremdbilder - Identitäten. Wahrnehmungen im östlichen Europa im Wandel
Bielefeld, transcript 2020



zum Thema
Die Anfeindung – rechtspopulistische und rechtsextreme Phänomene im postsowjetischen Raum

 

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