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Die neue Zeitenwende in den internationalen
Beziehungen – Konsequenzen für deutsche und europäische Politik. Ein SIRIUS-Beitrag

16.03.2017
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Prof. Dr. Joachim Krause

 SIRIUS 2017 1 system geralt pixabay

 

Die internationalen Beziehungen machen derzeit einen Strukturwandel durch, der ähnlich fundamental ist wie derjenige in den Jahren von 1989 bis 1992. Perioden strukturellen Wandels hat es in der neueren Geschichte immer wieder gegeben. Dies war der Fall in den Jahren nach der Französischen Revolution (1789–1795), nach dem Ende der Napoleonischen Kriege (1814–1820) und nach 1848, als sich in den meisten europäischen Staaten die Moderne und die parlamentarische Demokratie durchzusetzen begannen; in der Zeit zwischen 1890 und 1910, als eine relativ friedliche, eurozentrische Welt in einen Zustand der Anarchie und des Nationalismus überging; in den Jahren zwischen 1925 und 1939, als es darum ging, ob die Nachkriegsordnung hält oder kollabiert; im Zeitraum von 1945 bis 1955, in dem sich die neue westliche Welt und der Ost-West-Konflikt formierten; und schließlich bei der Zeitenwende von 1989/92, als der Ost-West-Konflikt beendet wurde. Gemeinsam war diesen Phasen, dass sich in ihnen die bis dahin maßgeblichen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturmuster der internationalen Politik auflösten und neue entstanden. Die hohe Frequenz derartiger Wandlungsprozesse in den vergangenen 225 Jahren ist welthistorisch ohne Parallele. Sie weist darauf hin, dass internationaler Strukturwandel Teil der Dynamik der Moderne ist. Der Charakter des jeweiligen Strukturwandels hat sich in allen Fällen als bestimmend für Krieg oder Frieden herausgestellt. Probleme können entweder politisch hinreichend bearbeitet werden und in Frieden und Stabilität übergehen, oder sie bleiben ungelöst und münden in Katastrophen.

In der Literatur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich mit der Erforschung der großen Katastrophen ihrer Zeit befasste, wurden diese Zusammenhänge immer wieder betont. Autoren wie Carl Polanyi, Josef Schumpeter, John M. Keynes, Hajo Holborn, Harold Laski oder Norman Stamps verwiesen auf die selbstzerstörerischen Folgen einer unregulierten Marktwirtschaft (Kapitalismus) und die daraus resultierenden Verwerfungen (Scheitern parlamentarischer Regierungssysteme, Aufkommen von Nationalismus, Protektionismus, Militarismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus sowie radikale und gewaltbereite Weltverbesserungsideologien). Ihnen zufolge hätten die Katastrophen des 20. Jahrhunderts (zwei Weltkriege, nationalsozialistischer und bolschewistischer Totalitarismus) vermieden werden können, wären die Politiker in den fortgeschrittenen (meist westlichen) Industriestaaten bereit und in der Lage gewesen, die breite Masse der ärmeren Bevölkerungsschichten vor existenziellen Risiken zu bewahren und den bürgerlichen Schichten die Angst vor einer auch nur moderaten Umverteilung zu nehmen. Stattdessen wurde oft genug innenpolitische Stabilisierung durch Nationalismus und Abgrenzung nach außen, das heißt durch Militarisierung und Imperialismus, gesucht. Dadurch wandelte sich die Struktur der internationalen Politik fundamental. Die internationalen Beziehungen waren in den 1870er- und 1880er-Jahren noch relativ friedlich gewesen. Es gab ein hohes Niveau der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtung und Interdependenz und die Einhaltung des Gewaltverbots hatte einen hohen Stellenwert in der internationalen Diplomatie. Nur 25 Jahre später brach der Erste Weltkrieg zwischen den am höchsten zivilisierten Nationen aus und verlief in einer Weise, die später zu Recht als „Zivilisationsbruch“ bezeichnet wurde.

Die oben genannten Autoren bieten für die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem heutigen Strukturwandel der internationalen Politik eine bessere Ausgangsbasis als die vornehmlich szientistische Theorieliteratur, die weitgehend das Erscheinungsbild der Politikwissenschaft prägt. Szientismus bedeutet, dass es Ziel der wissenschaftlichen Analyse ist, allgemeine Gesetzmäßigkeiten der internationalen Politik zu erforschen, die sowohl heute wie in früheren Phasen der Geschichte Gültigkeit beanspruchen können. Die Wissenschaft von den internationalen Beziehungen wird gegenwärtig von Analysen dominiert, die entweder belegen wollen, dass institutionelle Vorkehrungen zum Frieden beitragen, oder die zu beweisen versuchen, dass das nicht der Fall ist. Beide Theorierichtungen (liberaler Institutionalismus beziehungsweise Realismus) werfen interessante Fragen auf; sie taugen aber nicht zur Untersuchung eines internationalen Strukturwandels, der im Wesentlichen aus der Dynamik sich gegenseitig beeinflussender und historisch einmaliger wirtschaftlicher, technologischer, gesellschaftlicher, demografischer und politischer Trends zu erklären ist.

Wie kann eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem derzeitigen Strukturwandel aussehen? Im Rahmen eines Aufsatzes kann diese Frage nur angerissen werden. Jede wissenschaftliche Beschäftigung sollte aber zumindest vier große Schritte enthalten:

(1) Es muss eine Analyse der Komponenten des Strukturwandels vorgenommen werden. Diese lässt sich am ehesten so angehen, dass die wesentlichen Strukturmerkmale der zurückliegenden Periode daraufhin befragt werden, ob und wieweit sie noch Gültigkeit beanspruchen können.

(2) Es muss die Frage nach den Ursachen des Wandels gestellt werden. Hierbei ist es wenig sinnvoll, nur die Relevanz einzelner Variablen herauszustreichen. Vielmehr sollte versucht werden, komplexe Dynamiken zu untersuchen und zu entschlüsseln. In dieser Hinsicht sind auch historische Parallelen aufzugreifen. Sie können bei der Erschließung der Ursachen des heutigen Strukturwandels hilfreich sein.

(3) Es bedarf einer Analyse der möglichen oder wahrscheinlichen Folgen des Strukturwandels. Diese Analyse sollte insbesondere die Wahrung und Sicherung des internationalen Friedens in den Blick nehmen.

(4) Es sollten politische Schlussfolgerungen im Sinne allgemeiner Handlungsempfehlungen getroffen werden. Wichtig ist es, einen neuen strategischen Rahmen (strategic framework) zu definieren, in dessen Zusammenhang die wesentlichen Herausforderungen, aber auch die Gelegenheiten zum steuernden politischen Handeln definiert werden. Nur so können westliche Demokratien Handlungsfähigkeit behalten beziehungsweise erwerben.
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Der vollständige Beitrag ist erschienen in Sirius – Zeitschrift für Strategische Studien, Band 1, Heft 1, Seiten 3–24, ISSN (Online) 2510-2648, ISSN (Print) 2510-263X, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2017-0001.

 

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