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Marc Lynch: Die neuen Kriege in der arabischen Welt. Wie aus Aufständen Anarchie wurde

18.04.2018
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Aus dem Englischen von Rita Seuß und Thomas Wollermann.
Hamburg, Edition Körber-Stiftung 2016

Mit dieser Monografie legt Marc Lynch, der Erfinder des Begriffs „Arabischer Frühling“, eine Bewertung der Aufstandsbewegungen in der arabischen Welt nach 2011 vor. Ihm wurde häufig vorgeworfen, mit seiner Begriffsprägung die internationale Medienwelt in die Irre geleitet zu haben, doch aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist „Frühling“ durchaus eine richtige Bezeichnung. Im Abendland ist man gemeinhin geneigt, den Sommer als positiv besetzte Jahreszeit wahrzunehmen und den Winter eher mit negativen Konnotationen zu versehen. Im Arabischen, einer Sprache der brennenden Sommer, ist dies eher umgekehrt. So ist denn die Jahreszeit, die auf den „Arabischen Frühling“ folgt, auch korrekt ein unangenehmer „Arabischer Sommer“ und nicht der „Arabische Winter“, der sich bisweilen in manchen Aufsätzen findet. Auch Lynch selbst ist in dieser Studie deutlich pessimistisch, was bereits am Untertitel „Wie aus Aufständen Anarchie wurde“ deutlich wird.

In neun Kapiteln und auf über 400 Seiten arbeitet er heraus, dass die neuen Regime es nach 2011 versäumten beziehungsweise es ihnen nicht gelang, die Probleme zu adressieren, die die Aufstände befeuert hatten. Dabei haben sich die realen Lebensverhältnisse in den Aufstandsländern dramatisch verschlechtert. Libyen und Jemen können als gescheiterte Staaten gelten und auf absehbare Zeit scheint die Etablierung durchsetzungsstarker Regierungen zweifelhaft. In Ägypten wurde belegt, dass eine demokratische Wahl sehr wohl auch islamistisch ausgehen kann – was dem Westen trotz vieler gegenteiliger Beispiele immer noch schwer fällt zu glauben. Inzwischen hat sich dort eine Militärdiktatur etabliert. Syrien befindet sich inmitten einer humanitären Katastrophe, ist nachhaltig destabilisiert und wird mittelfristig einen Rückzugsort für terroristische Gruppen bilden. Die Schwäche der jeweiligen Regierungen hat zudem den regionalen Mittelmächten wie Saudi-Arabien, Iran, Türkei und Katar die Chancen eröffnet, ihre kalten Kriege zu Stellvertreterkriegen zu eskalieren. Dass sie hierbei gezielt mit der Unterstützung ethnischer und/oder konfessioneller Minderheiten konfliktverschärfend agieren und die Grundlagen für zukünftige Konflikte schaffen, wird dabei billigend in Kauf genommen. So habe vor allem Katar in allen Aufstandsländern die Muslimbruderschaft unterstützt, die zwar auch die katarische Herrscherfamilie kritisiert, schreibt Lynch, aber eben dem Hauptkonkurrenten Saudi-Arabien noch kritischer gegenübersteht. Insgesamt sind die Ausführungen zur Muslimbruderschaft lesenswert. In ihr erkennt der Autor das wichtigste Bollwerk eines gemäßigten Islamismus gegen radikalere dschihadistische Kräfte. Der Militärputsch und die De-facto-Zerschlagung der Organisation hätten nun den Weg für diese Kräfte geöffnet und damit eine weitere Verschärfung des Konfliktes forciert.

Die Verantwortung für die Eskalation des Konfliktes in Syrien sieht Lynch allein bei der Regierung Assad, die einer friedlichen Protestbewegung direkt mit Gewalt begegnet sei. Dies ist korrekt, stellt aber auch eine schwierige Komplexitätsreduktion dar. Wie in den meisten Aufstandsländern waren die Proteste nicht nur von demokratisch orientierten Kräften mit dem Wunsch nach größerer Freiheit getragen, sondern bildeten eine Projektionsfläche für viele Arten der Unzufriedenheit mit dem Status quo. Dazu zählten in Syrien auch Kräfte der Muslimbruderschaft sowie radikalere islamistische Gruppierungen, die den Konflikt mit dem Regime schnell mit der überzeitlichen Erinnerungsfigur des Kampfes gegen die (regierende) Minderheit der Alaviten aufluden. Bereits im Frühjahr 2011 war auf einschlägigen Internetforen zu lesen: „Christen in den Libanon, Alaviten ins Grab“. Dieser Aspekt ist wichtig, um die unbestreitbare Überreaktion des syrischen Regimes, das sich gerade auf diese beiden Minderheiten stützt, einzuordnen.

Lynch gibt selbst an, er wolle sich seinem Thema aus einer „regionalen Perspektive“ (20) nähern. Um allerdings so verschiedene regionale Kontexte wie den der arabischen Halbinsel, der Levante oder des Maghreb zu vereinen, muss er notwendigerweise einen höheren Abstraktionsgrad anlegen, der zulasten einer detaillierten Betrachtung des jeweiligen Landes geht. Dies ist bei einem Überblickswerk durchaus akzeptabel, müsste aber vielleicht stärker betont werden. Problematisch ist dabei auch, dass der Autor die globale Ebene ausblendet und so den wichtigen Akteur Russland in den Konflikten in der Levante kaum berücksichtigt. Die Rolle der USA wird hingegen ausgiebig beleuchtet und bisweilen muten seine Ausführungen wie eine Apologie zur Politik der Obama-Administration an.

In gewisser Weise kritisch ist sein Fokus auf Informationen aus sozialen Medien,
in denen er einen „wahren Fundus an Belegen und Einsichten“ (21) erkennt. In der Tat ist der Zugang für westliche Forscher zu Informationen durch die anhaltenden Konflikte erschwert und die Bedeutung sozialer (Online-)Netzwerke müsste auch in der Forschung einen größeren Niederschlag finden. Allerdings besteht dann die Gefahr, dass die tatsächliche Bedeutung und die gesellschaftliche Macht der Generation Facebook zu hoch eingeschätzt wird – wie in der Anfangsphase der Rebellionen 2011 geschehen.

Trotz des Scheiterns der Rebellionen in fast allen Ländern glaubt Lynch, dass es 2011 eine Chance auf die Herausbildung demokratischer Strukturen gegeben hätte. Überhaupt stellt er fest, dass zwar die erste Phase der Rebellion gescheitert sei, aber die herrschenden Regime sich nicht wieder stabilisiert hätten. Entsprechend seien weitere Rebellionen zu erwarten, die allerdings diesmal – auch aus den oben geschilderten Gründen (Schwächung moderater islamistischer Alternativen, Heraufbeschwörung historisch begründeter Feindbilder) – wahrscheinlich von mehr Gewalt und Rachedurst geprägt sein dürften.

Lynchs Schlussfolgerung und Empfehlung an den Westen ist so richtig wie wahrscheinlich politisch schwer umzusetzen: sich mit Interventionen herauszuhalten und lediglich die demokratischen Kräfte, wo möglich, zu unterstützen. Hier wäre es vor allem notwendig, einen Blick auf die Bewertung der Akteure zu werfen. Vielleicht wird man nicht umhinkommen, auch mit moderaten Islamisten zu kooperieren, um weiteren Radikalisierungen entgegenzuwirken oder vielleicht sogar de-radikalisierend zu wirken. Der Arabische Frühling hat deutlich gezeigt, dass vielen Menschen die Religion als ein möglicher Ausweg aus dem Chaos erscheint. Die Existenz religiös begründeter Parteien auch im Westen belegt, dass eine Harmonisierung religiöser und demokratischer Werte möglich ist. Diese müsste gefördert werden.

 

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