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Ein Weg aus der Krise: das Europa der mehreren Geschwindigkeiten. Das Weißbuch der EU-Kommission

10.04.2017
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Autorenprofil
Sabine Steppat, Dipl.-Politologin

March for Europe Rom 25. Mrz 2017 4Junge europäische Föderalisten beim March for Europe, einer Demonstration anlässlich des 60. Jubiläums der Römischen Verträge, 25. März 2017, Rom - beim Konstantinbogen. Foto: Sabine Steppat

 

Im März 2017 präsentierte der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker das Weißbuch zur Zukunft Europas und löste durch die fünf Szenarien erneut eine Diskussion über eine flexible Integration aus. In diesem Integrationskonzept sieht Dominika Biegon einen Mittelweg „zwischen dem Status quo eines wirtschaftsliberalen Weiterlavierens und der eher idealistischen Vorstellung einer einheitlichen europäischen Sozialunion“. Auch die Konstanzer Politikwissenschaftler Daniela Kroll und Dirk Leuffen halten ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten für nicht bedenklich. Nicolai von Ondarza sieht in einem Europa der mehreren Geschwindigkeiten zwar kein Allheilmittel und benennt einerseits dessen Nachteile. Andererseits ließen sich seiner Ansicht nach auf diese Weise Blockaden zwischen den Mitgliedstaaten lösen. Jürgen Stehn hingegen hält das Weißbuch der EU-Kommission für nicht geeignet, um den europäischen Integrationsprozess erfolgreich weiterzuentwickeln, da bei allen fünf Vorschlägen eine Definition der Kernkompetenzen Europas fehle.

Dominika Biegon
Mit verschiedenen Geschwindigkeiten in ein demokratisches und soziales Europa
ipg-journal, 29. März 2017

Die Autorin sieht in dem Konzept einer flexiblen EU eine Chance. Durch eine engere Kooperation in einigen Politikfeldern wäre zugleich die Möglichkeit gegeben, sich in anderen Feldern nicht zu beteiligen. Die Union würde nur dort tätig werden, wo sie die Handlungsmöglichkeiten nationaler Demokratien erweitert. Eingriffe in die nationale politische Selbstbestimmung wären damit eingedämmt, so Dominika Biegon. Nationale Parlamente würden verstärkt diskutieren, wann Politikfelder europäisch geregelt werden sollten und wann nicht. Europäische Politik würde damit in nationalen Parlamenten eine Aufwertung und eine stärkere Politisierung erfahren. So könnten die Bürger*innen durch ihre Vertreter*innen in den nationalen Parlamenten die Politik der europäischen Integration stärker beeinflussen. Die Idee einer immer engeren Union werde so abgelehnt, eine Vertiefung der Integration in bestimmten Politikfeldern sei aber erwünscht. Eine flexible Integration weise einen Weg, um das Demokratiedefizit der Europäischen Union zu verringern. In einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten könne ein Mittelweg gesehen werden „zwischen dem Status quo eines wirtschaftsliberalen Weiterlavierens und der eher idealistischen Vorstellung einer einheitlichen europäischen Sozialunion“.

 

Daniela Kroll / Dirk Leuffen
Wer hat Angst vor der differenzierten Integration?
Eurativ, 31. März 2017

Die Konstanzer Politikwissenschaftler Daniela Kroll und Dirk Leuffen halten ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten für nicht bedenklich. Es werde weder zu einem Zerfall der EU noch zu einer Zweiklassen-Gesellschaft führen. Im Gegenteil, „wenn die EU zukünftig weitere Jubiläen feiern will, dann sollte Differenzierung als Chance gesehen werden, ein Europa der 27 plus X voranzubringen."

 

Nils Meyer-Ohlendorf
Nicht wie schnell, sondern warum und wohin! Die Diskussion um ein „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ ist die falsche Debatte zur falschen Zeit.
ipg-journal, 9. Juni 2017

Der Autor, Leiter des International and European Governance Program des Ecologic Instituts in Berlin, hätte es bevorzugt, „wenn das Weißbuch den praktischen Ansatz gewählt hätte: warum braucht die europäische Wirtschaft einen Binnenmarkt mit gemeinsamen Regeln? Warum kann Kriminalität und Steuerhinterziehung besser gemeinsam bekämpft werden? [...] Die Szenarien des Weißbuchs verstecken den praktischen Mehrwert von Zusammenarbeit in den EU Institutionen. Das Weißbuch hat also eine Chance verpasst, aber die laufende Diskussion zur Reform der EU bietet hoffentlich weitere Möglichkeiten, den praktischen Nutzen der EU zu diskutieren.“

 

Nicolai von Ondarza
Erfolgsbedingungen für ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten
SWP-Kurz gesagt, 3. März 2017

Zwar biete das Weißbuch auf den ersten Blick wenig Neues, es habe jedoch eine wichtige Debatte über die Frage ausgelöst, ob die EU nicht nach einer langen Krisenphase ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten in den Blick nehmen sollte, um ihre Reform- und Handlungsfähigkeit zu erhöhen. Ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten sei längst Realität – das gelte beispielsweise für die Eurozone oder den Schengen-Raum. Nicolai von Ondarza sieht darin kein Allheilmittel und benennt die negativen Aspekte eines solchen Integrationskonzeptes: Einerseits leide die Transparenz und andererseits gefährde die Gruppenbildung den Zusammenhalt in der EU. Die Vorteile sieht er darin, dass sich so Blockaden lösen und Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten reduzieren lassen. Drei Elemente haben sich seiner Meinung nach als besonders wichtig erwiesen, um in einem Europa der mehreren Geschwindigkeiten den Zusammenhalt der EU zu sichern und ein Voranschreiten der Integration zu ermöglichen: erstens die Nutzung der EU-Institutionen, zweitens eine Gruppe entschlossener Mitgliedstaaten, die bereit ist, Ressourcen und politisches Kapital zu investieren, und drittens müsse die Mitgliedschaft in einer solchen Gruppe entschlossener Staaten auch Vorteile bringen.

 

Jürgen Stehn
Das Kern-Problem der EU
Institut für Weltwirtschaft (Hrsg.) KIEL POLICY BRIEF, Nr. 106, März 2017.

Jürgen Stehn hält das Weißbuch der EU-Kommission zur Zukunft Europas für nicht geeignet, um den europäischen Integrationsprozess erfolgreich weiterzuentwickeln. Denn allen fünf Vorschlägen fehle eine Definition der Kernkompetenzen Europas und der Nationalstaaten. Auf der Grundlage des ökonomischen Subsidiaritätsprinzips leitet er die folgenden acht Kernkompetenzen ab, die den Nukleus der EU bilden sollten: die Handels-, Kapital- und Niederlassungsfreiheit, die Fusions- und Beihilfenaufsicht sowie die Asyl-, Sicherheits- und Umweltpolitik. Die gemeinsame Währungspolitik stelle einen Sonderfall dar, denn bei der Beurteilung der Frage, ob diese eine Kernkompetenz der EU sei, gerate das ökonomische Subsidiaritätsprinzip rasch an seine Grenzen. Da ein Ausstieg aus der gemeinsamen Währungspolitik dem Euroraum erhebliche wirtschaftliche Kosten aufbürden würde, werde die EU den Euro als ein Teil der gemeinschaftlichen Politik jedoch auch zukünftig tragen müssen.

 

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