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Jörg Radtke / Weert Canzler / Miranda Schreurs / Stefan Wurster (Hrsg.): Energiewende in Zeiten des Populismus

21.01.2020
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2019

Die Energiewende ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Denn nicht nur der immer spürbarer werdende Klimawandel, sondern bereits erzielte Ausbauerfolge sorgen dafür, dass energiepolitische Fragen unmittelbare alltägliche Relevanz erhalten. Dass es sich dabei um ein konfliktreiches Politikfeld handelt, ist sicherlich keine neue Erkenntnis, dennoch lässt sich festhalten, dass der politische Aufschwung populistischer Kräfte in Deutschland, Europa und im Rest der Welt auch einen erheblichen Einfluss darauf hat, wie sich diese Energiekonflikte gesellschaftlich darstellen und politisch ausgetragen werden. Die jüngste Revision der Ausbaurichtlinien für Windkraftanlagen – durch die Einführung eines Mindestabstandes von eintausend Metern zu bewohnten Bereichen – lässt sich daher auch als Reaktion auf eine Abnahme der gesellschaftlichen Akzeptanz werten. Auch international steht die Energiewende unter Druck, wie etwa die französischen Gelbwestenproteste, der US-amerikanische Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen oder das trotzige Festhalten der australischen Regierung an einer fossilen Energieversorgung zeigen.

Aus der Perspektive der Politikwissenschaft handelt es sich bei diesen Konfliktlagen nicht unbedingt um ein völlig neues Phänomen. Denn die Entstehung von breiten und teils überaus verhärteten Konfliktlinien ist ein bekanntes Begleitphänomen von großen umwelt- und technikpolitischen Transformationen, wie die Beispiele Atomenergie oder Fracking deutlich gezeigt haben. Worin besteht also das konkrete Forschungsdesiderat, wenn die Themenbereiche Energiewende und politischer Populismus gemeinsam betrachtet werden? Genau darauf wollen die Herausgeber Jörg Radtke, Weert Canzler, Miranda Schreurs und Stefan Wurster mit diesem Sammelband eine erste orientierende Antwort geben. Dass es sich um ein noch unerschlossenes und hochrelevantes Themenfeld handelt, betonen sie bereits in ihrem Vorwort: Die Publikation resultiert aus einer Tagung im Mai 2017, die auf großes Interesse und Resonanz gestoßen ist. In der Konzeption des Bandes verfolgen die Autor*innen einen breiten Ansatz: Das Phänomen des Populismus ist für sie nicht ausschließlich mit der Gegnerschaft gewisser politischer Gruppierungen wie zum Beispiel der AfD gegenüber Windkraftanlagen oder Ähnlichem gleichzusetzen. Vielmehr handelt es sich bei dem Populismus um ein Phänomen, das innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Konflikte und Meta-Diskurse erscheint. Der Sammelband geht daher von folgender Definition aus: „Wir verstehen Populismus […] als eine spezifische Form des Auftretens polarisierender, d. h. zuspitzender Kräfte und Positionen, welche auf allen gesellschaftlichen wie politischen Ebenen […], in allen sozial organisierten Formen […] und in allen sozialkommunikativen Formaten […] identifiziert werden können“ (VI).

Einer politikwissenschaftlichen Perspektive auf dieses Thema geht es also vor allem darum, das spezifisch Populistische in den bekannten Energiewendekonflikten zu identifizieren und systematisch zu analysieren. Eine solche Energiewendeforschung ist somit insbesondere auch ein Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Konflikt-, Kommunikations- und Bewegungsforschung, da der „Band […] den Fokus traditioneller energiepolitischer Analysen um Aspekte der Diskurs-, Lebenswelt- und Soziale Bewegungsforschung sowie politischen Kulturforschung [erweitert]“ (6). Die Autor*innen vertreten in ihrer Einleitung daher die These, dass „die Diskurse und Konflikte um die Energiewende ein Spiegelbild gesellschaftlicher Stimmungslagen sind“ (6).

Diese Konfliktlagen können folglich auch nicht als einfacher Widerstreit von Akzeptanzmangel und -beschaffung angesehen werden, sondern sind vielmehr als Ausdruck der Frage „wie wollen wir leben?“ (7) aufzufassen, um ihre ganze Tragweite analysieren zu können. Es ist daher eine Leistung der Autor*innen, thematisch und methodisch vielfältige Texte zusammenzuführen. Die vierzehn Beiträge gruppieren sich in die folgenden vier Themenfelder: Zunächst werden theoretische Zugänge aufgezeigt, sodann Energiewende-Diskurse auf europäischer und internationaler Ebene beleuchtet. Anschließend geht es um lokale Konfliktfelder und schließlich um Protestkulturen und soziale Bewegungen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es den Herausgebern gelingt, sowohl durch ihre breite Definition von Populismus als auch durch die Vielfalt der Beiträge zu zeigen, dass es sich beim Energiewende-Populismus um ein internationales und vielgestaltiges Phänomen handelt. Dieses ist keinesfalls mit rechtspopulistischen Ansätzen gleichzusetzen. So reicht das Spektrum vom radikalen Klimaskeptizismus US-amerikanischer Prägung über die Persistenz fossiler- beziehungsweise nuklearer Präferenzstrukturen in Großbritannien und Australien bis hin zu lokalen Konflikten um den Ausbau von Windkraftanlagen oder Energiegenossenschaften. Auch theoretisch ist dieses Phänomen nur pluralistisch zu fassen, wie die vielfältigen methodischen und theoretischen Zugänge demonstrieren.

Der Energiewende-Populismus erscheint in der Zusammenschau dieser Beiträge als ein komplexes Phänomen, das hochgradig kontextabhängig ist, wie bereits ein kursorischer Vergleich der divergenten Positionen von AfD und FPÖ zeigt – welche sich ansonsten durch große thematische Nähe auszeichnen (siehe den Beitrag von Veith Selk, Jörg Kemmerzell, Jörg Radtke). Dennoch ist dieser breite Ansatz auch anfällig dafür, das Wesentliche eines dezidiert rechtspopulistischen Vorgehens im Bereich der Energiewende aus dem Fokus zu verlieren. Ist es doch gerade die Parole eines energiepolitischen Weiter-so – das sich nicht nur umweltpolitischen Notwendigkeiten, sondern auch einem bereits begonnenen gesellschaftlichem Wandel verschließt –, welche diese Positionen für viele Menschen attraktiv erscheinen lässt. Die Beschwörung von Identität, Tradition oder gewissen ästhetischen Vorstellungen von Landschaft erscheinen in diesem Kontext vor allem als strategische Argumente, um prekäre Privilegien zu sichern.

Eine politikwissenschaftliche Perspektive auf diese Phänomene erfordert daher bei aller Systematik auch, das spezifisch Rechtspopulistische in diesen Transformationskonflikten zu benennen, da die Energiewende vor allem von hier wirksam unter Druck gesetzt wird. Ein allzu breiter Ansatz droht, dieses Spezifikum gegenwärtiger Energie- und Umweltkonflikte aus dem Blick zu verlieren und sich so der Notwendigkeit einer fundierten Kritik dieses politischen Agierens zu verwehren.

In diesem Kontext wäre auch ein resümierendes Fazit hilfreich gewesen, das die durch die Beiträge aufgeworfenen Fragen bündelt und die Aufgaben weiterer politikwissenschaftlicher Forschung in diesem Feld konkret ausformuliert. Trotz dieses Mankos handelt es sich um einen überaus lesenswerten Sammelband, der eine hervorragende Orientierung in diesem heterogenen und konfliktreichen Politikfeld bietet.

 

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Jörg Radtke / Norbert Kersting (Hrsg.)

Energiewende. Politikwissenschaftliche Perspektiven

Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2019

Der Sammelband bietet politikwissenschaftliche Perspektiven zur Energie- und Mobilitätswende, die Rezensent Martin Repohl als eine demokratische und gesellschaftliche Herausforderung versteht. Die Stärke des Bandes liege vor allem in seiner thematischen Heterogenität bei einer gleichzeitig thematisch anschlussfähigen Selbstverortung im Bereich der Policy- und Governanceforschung. Durch die Herausarbeitung von Bezügen zur Partizipations- und Legitimationsforschung eigne sich der Band hervorragend als Einführung in die politikwissenschaftliche Energiewendeforschung.
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Lektüre

Jan Stede und Nils May
Strikte Mindestabstände bremsen den Ausbau der Windenergie
DIW-Wochenbericht 48 / 2019, S. 895-903.

 


 

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Deutschland im Energiewandel

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