Skip to main content
Karl Schlögel

Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen

München: Carl Hanser Verlag 2015; 301 S.; 21,90 €; ISBN 978-3-446-24942-4
Als Historiker hat sich Karl Schlögel über mehrere Jahrzehnte hinweg intensiv mit der russischen und der sowjetischen Geschichte befasst. Angesichts der Ukraine‑Krise bekannte er sich mehrfach öffentlichkeitswirksam dazu, die eigene Historie dieses Landes dabei stets ignoriert beziehungsweise nur unter einem „imperial fokussiert[en]“ (54) Blickwinkel wahrgenommen zu haben. Die Frucht der unter dem Eindruck der jüngsten politischen Entwicklungen einsetzenden intellektuellen Auseinandersetzung mit der Ukraine und ihrer Vergangenheit ist unter anderem dieses Buch – mithin eine sehr persönlich gehaltene Veröffentlichung und ein „Zeugnis der Desillusion“ (Katharina Döbler). Ein Mittel der Annäherung bilden die für Schlögel, der sich sowohl als „Fachmann“ als auch als „Zeitgenosse“ (287) durch die russische Intervention herausgefordert sieht, typischen Städteporträts. Dieser Ansatz bringt eine gewisse Einengung mit sich: Die ruralen Regionen des Landes bleiben bei der Betrachtung überwiegend außen vor. Weit in die Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgreifend, wird die „Leerstelle“ (10) Ukraine im zweiten Teil des Buches durch Städtebilder von Kiew und Charkiw, Donezk und Dnipropetrowsk erschlossen. Die Texte zu Czernowitz und Lemberg/Lwiw, Odessa und Jalta wurden bereits 1991 beziehungsweise 2001 an anderer Stelle veröffentlicht und für den Wiederabdruck mit einführenden, aktualisierenden Passagen ergänzt. Der erste Teil bietet Reflexionen zur aktuellen Situation in der Region und zu den zugrundeliegenden Entwicklungen auch in Russland. Schlögel deutet das expansive Ausgreifen auf der Krim und in der Ostukraine als Ausdruck einer „fundamentale[n] Krise Russlands“ (78) im Inneren, Wladimir Putin erscheint ihm zunehmend als „failing man“ (79). Sein Buch versteht der Autor so auch als Plädoyer für ein „andere[s] Russland“ (41) jenseits von Nationalismus, Rechtlosigkeit und Propaganda, die er als Kennzeichen des Putin‑Regimes diagnostiziert. Auch die Ukraine muss sich mit solchen Phänomenen auseinandersetzen, dazu treten Korruption und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Hier ist es für Schlögel an der europäischen Politik, die eigenen Kenntnisse über das Land zu vertiefen und den Maidan als „Erhebung im Zeichen nicht nur der blau‑gelben Flagge der Ukraine, sondern der blauen Europafahne mit den goldenen Sternen“ (12) zu unterstützen.
{MUN}
Rubrizierung: 2.612.624.22 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. München: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39261-entscheidung-in-kiew_47711, veröffentlicht am 14.01.2016. Buch-Nr.: 47711 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken