Erzählungen vom Staat. Ideen als Grundlage von Staatlichkeit
Es herrscht die Überzeugung vor, dass in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die Zeit der großen Erzählungen längst vorbei ist. Zu sehr hat sich das vermehrte Faktenwissen durchgesetzt. Eine Abhandlung rationaler Stichpunkte erscheint effizienter als die ausformulierte Erzählung. Zudem vermittelt sie stärker den Eindruck einer möglichst objektiven Darstellung des Wissensstandes. Jedoch, so der Herausgeber, werde in dieser Perspektive die Komplexität von Phänomenen außer Acht gelassen, diese könne durch rein rationale Wissensbetrachtungen nicht immer ausreichend gewürdigt werden. Dieses gelte insbesondere für den Typus der Staatserzählungen, der eine Vielfalt an Funktionen erfülle. Neben einer historischen Darstellung wird in ihr zumeist versucht, die Idee des jeweiligen Staates herauszuarbeiten. Welche Werte binden die einzelnen Mitglieder des Staates aneinander? Aus welcher Quelle bezieht der Staat seine Legitimation? Der Aspekt der Legitimation wird dabei nicht allein aus sich selbst heraus betont. Auch die Abgrenzungen zu anderen, historisch konkurrierenden Staatserzählungen findet statt. In welcher Hinsicht kann ein Staat aus seiner Erzählung heraus gegenüber anderen Staatskonzepten legitimatorische Überlegenheit für sich verbuchen? Als ein entscheidender Ausgangspunkt von Staatserzählungen gilt die Gründung des Staatswesens. Christian Waldoff befasst sich in diesem Zusammenhang mit den Entstehungsgeschichten von Verfassungen. Im besonderen Blickpunkt steht dabei die verfassunggebende Gewalt. Von ihrer Definition aus wird maßgeblich die weitere Staatserzählung hinsichtlich der Legitimation beeinflusst. Die Bedeutung einer tragenden Idee des Staates benennt Tilmann Meyer, der den Verlust eben dieser als „Anfang vom Ende“(97) der Staatlichkeit ausmacht. Dieses könne insbesondere an der deutschen Geschichte und ihren mehrfach gescheiterten Staatswesen beobachtet werden. Im Bereich der konkurrierenden Funktion der Staatserzählungen rückt Reinhard Müller den Vergleich zwischen Deutschland und Europa in den Mittelpunkt. Die europäische Idee scheint deutlich an Glanz zu verlieren, wie Müller eindrucksvoll an der schmucklosen Präambel des Vertrags zu Lissabon aufzeigt.