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70 Jahre Bundesverfassungsgericht. Etatistische Schieflagen und Rollbacks eines konservativen Gerichts

21.02.2022
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Prof. Dr. Robert Chr. van Ooyen
Foto: Mündliche Verhandlung in Karlsruhe, 10. Juli 2012, (Autor: Mehr Demokratie e. V.) / Wikimedia , User: Martin C. John, Lizenz: CC BY-SA 2.0

Seit einigen Jahren sehe sich das Bundesverfassungsgericht in der Forschung der Kritik ausgesetzt: Vorgehalten werde ihm nicht nur, in zu vielen politischen und sonstigen Lebensfragen zu entscheiden (Stichwort „Entgrenzung“), sondern auch ein gewisser „Etatismus“. Das bedeute, dass es in Fragen von „hoher“ Politik oftmals „staats-und regierungsnah“ urteile. Diese Kritikpunkte erörtert Robert van Ooyen anhand von drei Büchern – von Gerhard Czermak, Andreas Kulick/Johann Justus Vasel sowie Kristina Stiegemeyer – und fragt abschließend nach den Gründen für die konservative Haltung des Gerichts. (ste)

Eine Sammelrezension von Robert van Ooyen

Das Bundesverfassungsgericht ist seit einigen Jahren in der politik- und rechtswissenschaftlichen Forschung der Kritik ausgesetzt: Diese bezieht sich auf seine zunehmende „Entgrenzung“ (Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger), da es zu allen politischen und sonstigen Lebenslagen entscheidet. Bereitwillig und zu oft ist es dabei in deutscher Manier auch in Detailfragen eingestiegen und hat dem Gesetzgeber gerne schon einmal den Lebenskomfort kinderreicher Beamtenfamilien vorgerechnet oder die Anzahl Sonntage, an denen hintereinander vor Weihnachten Geschäfte öffnen dürfen, die Quadratmeterzahl beim Rauchverbot in Kneipen, die statistischen Maßstabsgrundsätze für Hartz IV usw.

Die Kritik bezieht sich zudem auf seinen „Etatismus“. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht nur keine „Gegenregierung“ (so schon Göttrik Wever), sondern entscheidet bei Angelegenheiten von – hegelianisch gesprochen – „hoher“ Politik „staats- und regierungsnah“, es erteilt im Zweifelsfall der Regierungsmehrheit eine „carte blanche“, damit der Staat entscheiden und handlungsfähig bleiben kann. Hierfür steht zum Beispiel das (Ver-)Zögern bei der Pandemie-Grundentscheidung beziehungsweise das nunmehr erfolgte komplette (einstimmige) „Durchwinken“ der Grundrechtseinschränkungen durch die beiden „Bundesnotbremse-Beschlüsse“, aber auch fast die gesamte Rechtsprechung zur Außenpolitik als weitestgehend parlamentsfreien Raum Hobbes‘scher Naturzustände souveräner „Staatenanarchie“. Bei seinem ersten „Out of area-Urteil“ (1994) und bei der Plenarentscheidung „Luftsicherheit“ (2012) zum Einsatz der Bundeswehr in Terrorlagen (9/11) lieferte das Bundesverfassungsgericht „staatsräsonistisch“ sogar Verfassungsänderungen für die Exekutive auf „kaltem“ Weg nach, die zuvor an den fehlenden Zweidrittelehrheiten zur Grundgesetzänderung ausdrücklich im parlamentarischen Raum gescheitert waren.

Soziologisch hat das mit seiner Zusammensetzung, institutionell unter anderem mit dem Wahlverfahren, machtpolitisch mit seiner bloß schwachen „Deutungsmacht“ (Hans Vorländer) zu tun. „Staatsnah“ ist das Bundesverfassungsgericht aber auch aus Sicht der politischen Theorie, weil seine Auslegung der Verfassung eine konservative Schlagseite hat. Es greift nicht selten auf vordemokratische Bestände der deutschen Staatsrechtslehre zurück. Im Beamtenrecht etwa hat es aufgrund des hier tradierten Verständnisses von „Staat“ die bloße „Berücksichtigung“ der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums des Art. 33 GG einfach zur Beachtung hin verschoben und so als „Sonderrecht einer ‚staatstragenden’ Gruppe“ gegen Neuerungen abgeschirmt (Hans Peter Bull). In seiner Europa-Rechtsprechung positioniert es bis heute einen eigentümlichen, liberal eingehegten, „hegelianisch-schmittianisch“ aufgeladenen Theoriemix von „Staat“, „Volk“ und „Souveränität“ gegen das Europa ohne „Volk“ („Kein-Demos-These“ Ernst-Wolfgang Böckenfördes) und des bloßen „Staatenverbunds“ souveräner Nationalstaaten (Paul Kirchhof). In seiner Rechtsprechung zum Parlamentarismus, so wurde jüngst von Astrid Kuhn gezeigt, finden sich immer wieder konservative Versatzstücke eines Politikverständnisses des 19. Jahrhunderts, das den Paradigmenwechsel vom Parlamentarismus der Paulskirche zur Parteiendemokratie nur bedingt nachvollzogen hat.

Nun wird dieser grundsätzliche Befund durch die Arbeit von Gerhard Czermak in einem weiteren Feld mit überzeugender Analyse bestätigt. Czermak, am Institut für Weltanschauungsrecht der Giordano-Bruno-Stiftung aktiv, legt eine nahezu lückenlose, fallorientierte Kommentierung der Rechtsprechung zu religiös-weltanschaulichen Fragen anhand von über 40 herangezogenen Entscheidungen vor: von den alten, meist vergessenen, aber zum Teil bis heute wirksamen wie das Konkordats-Urteil (1957), die Erhebung von Kirchensteuer in der gemeinsamen Steuerveranlagung auch bei konfessionslosen oder glaubensverschiedenen Eheteilen (1965/66), der „Aktion Rumpelkammer“ (1968) mit ihrer Ausdehnung der kirchenrechtlichen Sonderregelungen auf alle möglichen irgendwie mit den christlichen Kirchen verbundenen Einrichtungen, über den „Goch-Beschluss“ zur Betriebsratswahl (1977), zum „Schulgebet“ (1979) sowie „Schwangerschaftsabbruch“ (1993) und „Cruzifix“ (1995) bis hin zu den aktuellen Entscheidungen wie „Loyalitätspflichten/Chefarztfall“ (2014), „Kopftuch III“ (2020) und zuletzt „Assistierter Suizid“ (2020).

Nahezu bei allen Entscheidungen erweise sich das Bundesverfassungsgericht nicht als ein Hüter der Neutralität des Staates in Religions- und Weltanschauungsfragen, sondern als Stütze der christlichen Großkirchen, weit über die Weimarer Kirchenartikel hinaus, die durch Art. 140 GG automatisch Bestandteil des bundesdeutschen Verfassungsrechts sind. Diese konservative Schlagseite zum etatistischen „Staatskirchenrecht“ ist einer der Gründe, so hat Thomas Gawron gezeigt, weshalb andere Religionsgesellschaften, ohne „anerkannten“ öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus, ihre Positionen immer wieder mühsam über das individuelle Instrument der Verfassungsbeschwerden erstreiten müssen. Ob Kirchensteuereinzug oder Arbeitsrecht, ob staatliche Konfessionsschulen, theologische Fakultäten oder christliche Sozialverbände – die Rechtsprechung erweise sich, so Czermak, „von Beginn an kirchenfreundlich“, auch weil zahlreiche Richter*innen (nicht nur der bekannte Böckenförde) in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts in den christlichen Kirchen (namentlich der katholischen) engagiert gewesen seien (129). Dabei habe das Religionsverfassungsrecht eine „Verkirchlichung“ (29) und eine Entgrenzung erfahren: Das verfassungsrechtlich garantierte, bloße „Selbstverwaltungsrecht“ der Religionsgesellschaften sei umgedeutet worden in ein „Selbstbestimmungsrecht“ (59). Die zentrale Beschränkung der „Selbstverwaltung“ im gleichnamigen, heute noch geltenden Weimarer Kirchenartikel – nämlich: „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ (Art. 137 WRV) – werde zugunsten eines autonomen kirchlichen Sonderrechts durchbrochen. Das Bundesverfassungsgericht habe zudem aus der (leicht) einschränkbaren bloßen „Gewährleistung“ der Ausübungsfreiheit in Art. 4 II GG ein Individualgrundrecht i. S. der nur schwer einschränkbaren (weil „unverletzlichen“) Glaubens- und Bekenntnisfreiheit des Art. 4 I GG gemacht. Dies werde noch auf alle sonstigen kirchennahen (zum Teil aber sogar vom Staat finanzierten) Einrichtungen ausgedehnt, sodass gerade im Bereich des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts eine rechtliche „Parallelwelt“ betr. Kündigungsschutz, Betriebsräte, Gewerkschaften, Tarifautonomie, Streikrecht entstanden sei. Erst der EuGH habe 2018 angefangen, diesen „deutsche[n] Sonderweg“ (115) zu kassieren, vor dem Hintergrund eines Streits zwischen Bundesarbeitsgericht und Bundesverfassungsgericht.

Czermak teilt dabei die von Oliver Lepsius herausgearbeitete Problematik des Bundesverfassungsgerichts als einer „maßstabsetzenden Gewalt“: Statt fallorientiert einen Konflikt juristisch an der Verfassung zu lösen, deduziere das Gericht aus einem „lehrbuchartigen abstrakten Maßstäbeteil“ (121), in dem zeitlos-objektive Grundsätze aufgestellt würden, die losgelöst vom historischen Fallkontext sich über die Eigenzitation in der Rechtsprechung verselbstständigten und zementierten. Über diesen besonderen „German Approach“ (Christoph Schönberger), das konservative Verständnis der Verfassung als „Werteordnung“ und die weltanschaulichen Grundhaltungen seiner Richter/innen infolge ihrer Sozialisation flössen „ideologische Voreingenommenheiten“ (128) ein.

Die Erfindung der „Werteordnung“ des Grundgesetzes im Lüth-Urteil (1954) halten auch Andreas Kulick und Johann Vasel für einen konservativen Mythos, den das Gericht bis heute reproduziere – auch um sich mit seiner Unschärfe dezionistisch Spielräume offen zu halten. Materiale Wertethiken und „Objektivitäten“ durch „Wesensschau“ waren zwar in der Weimarer Staatsrechtslehre bisweilen beliebt (etwa beim späteren Verfassungsrichter Gerhard Leibholz). Aus heutiger Sicht gilt das Konzept als ausgesprochen rückwärtsgewandt: als ob man die Staats- und Verfassungstheorie so einfach hinter den sozial- und rechtswissenschaftlichen Positivismus eines Max Weber und Hans Kelsen zurückdrehen könnte. Kulick/Vasel, die den Begriff „konservativ“ primär auf die juristische Dogmatik des Gerichts beziehen und ihn mithilfe einer „Skala“ von „Bewahren, Beharren, Bremsen, Musealisieren“ (25) ausdifferenziert nicht in jeder Hinsicht negativ werten, sprechen in diesem Fall sogar von einer geschichtsklitternden „Musealisierung“. Zur Exkulpation habe man „den Positivismus für die Exzesse [...] der Rechtswissenschaft und Rechtspraxis im Nationalsozialismus verantwortlich“ machen wollen, „obwohl nationalsozialistische Rechtslehre im Gegenteil gerade antipositivistisch argumentierte“ (51).

Bei den Grundrechten zeige sich zudem eine zweite „Musealisierung“, da diese ideengeschichtlich einseitig auf das Verständnis von Abwehrrechten der Bürger*innen gegenüber staatlicher Gewalt verkürzt worden seien. Hierdurch verstärke sich die „Staatsrichtung der Grundrechte“, auch bei der sogenannten. mittelbaren Drittwirkung zwischen Privaten. Diese ziele auf den Schutz vor dem und durch den Staat (Stichwort: „Schutzpflichtenlehre“) – und auf die Zuständigkeit der Gerichte, nicht aber auf die des demokratisch gewählten Gesetzgebers. Zugleich nutzte das Gericht damals beide dogmatischen Konzepte zur Festigung seiner Position, namentlich gegenüber dem BGH (und dem Bundesarbeitsgericht mit seiner Lehre der unmittelbaren Drittwirkung von Grundrechten zwischen den Privatrechtssubjekten): „Dogmatischer Konservatismus war [...] das Instrument zur Machtsicherung im intra-judiziellen Dialog mit der Fachgerichtsbarkeit“ (56). In der konkreten Rechtsprechung habe das Gericht jedoch seine altmodische „Werteordnung“ später durchaus auch emanzipatorisch, zugunsten Schwächerer nutzen können. Kritischer sehen Kulick/Vasel die „Etatisierung“ (70) der Grundrechte, die in direkter Tradition des Staatsverständnisses Hegels stehe und „freiheitsverkürzend“ gerade bei den mächtigen nichtstaatlichen Akteuren wirke: „Denn wenn Freiheit [...] nur über den Staat zu haben ist, dann scheidet sie aus, wo es an staatlicher Involvierung fehlt. Oder der Staat muss überall involviert werden“ (75). Das zeige sich bei den Internetgiganten Google, Twitter, Facebook und, so lässt sich ergänzen, etwa bei der langjährigen Schwierigkeit des Bundesverfassungsgerichts, im Asylrecht die sogenannte „nicht-staatliche“ Verfolgung in Bürgerkriegssituationen grundrechtlich einzufangen, weil es jahrelang die „politische“ Verfolgung des Art. 16 bzw. heute 16a GG auf die bloß „staatliche“ verkürzt hatte.

Den Befund einer „Parallelrechtsordnung“ im Religionsverfassungsrecht, die mit der Etatisierung der christlichen Großkirchen einhergehe, teilen auch Kulick/Vasel. Vom „‚Staat im Staate’“ (108) lasse sich in Anlehnung eines Sondervotums des früheren Verfassungsrichters Rottman (NRW Krankenhausgesetz 1980) sogar sprechen. Das sei vor allem auf einen konservativen Rollback durch die Rechtsprechung des Zweiten (Staatsorganisationsrechts-)Senats zurückzuführen, der seit den 1970er-Jahren primär zuständig ist. Dessen „staatszentriertes Denken“ (107) in der Spur Hegels habe das kirchliche „Selbstbestimmungsrecht“ faktisch fast jedweder gerichtlichen Kontrolle vor allem im Arbeitsrecht entzogen.

Auch beim Kompetenzverhältnis zwischen Regierung und Parlament orientiere sich das Bundesverfassungsgericht mit seiner „Kernbereichslehre“ an einem konservativen Politikverständnis; es befördere das „strukturelle Übergewicht der Regierung in der parlamentarischen Demokratie“ (147). Die Betonung der Handlungsfähigkeit des Staates führe gerade in der Außenpolitik zur „‚Exekutivlastigkeit’“ (129), sodass beispielsweise Rüstungsexporte der effektiven parlamentarischen Kontrolle entzogen würden. Eine eingeschränkte Kontrolle im Falle „hoher Politik“ gelte auch für das Kompetenzverhältnis der Regierung zum Bundesverfassungsgericht selbst. Das wird vor allem anhand des aktuellen Zurückweisens von unzähligen Verfassungsbeschwerden in der Pandemie gezeigt: „Weniger Freiheit, mehr Regierung war nie“ (135). Den massivsten Einschränkungen von Grundrechten in der bundesdeutschen Geschichte – zum Teil sogar ihrer völligen Aufhebung – habe das Gericht nichts entgegengesetzt und eine viel „zu lange ‚Stunde der Exekutive’“ ermöglicht (134). „Von der sonst beschworenen Einzelfallgerechtigkeit ist keine Spur“ (140).

Eine vergleichende Arbeit zu den Europa-Verständnissen von Bundesverfassungsgericht und Bundestag legt Kristina Stiegemeyer vor, die die bisherigen Ergebnisse der Forschung bestätigt. Angesichts des Verfassungsauftrags zur „Verwirklichung eines vereinten Europa“ (Art. 23 GG), der alle Staatsorgane zur Mitwirkung verpflichtet, sei die Position des Gerichts „nur schwer nachvollziehbar“ (293). Denn es müsste seiner eigenen, von ihm sonst gegenüber anderen Verfassungsorganen so beschworenen „Integrationsverantwortung“ nachkommen. Aber ausgerechnet der „Hüter der Verfassung“ leite „aus dem Grundgesetz nahezu unüberwindbare Hindernisse für die europäische Integration her“ (293). Das gelte etwa für das Verbot eines europäischen Bundesstaats und für das einer echten, also supranationalen europäischen Armee. Die nationalstaatliche Souveränität Deutschlands und den Parlamentsvorbehalt des Bundestags bei militärischen Auslandseinsätzen erkläre das Gericht zu integrationsfesten Bestandteilen des Grundgesetzes, einfach postuliert aus seinem Dogma der „Verfassungsidentität“. Es zeigt sich, so kann pointiert werden, ein „europafeindlicher“, wiederum konservativer Rollback (forciert durch die Maastricht- und Lissabon-Entscheidung), gerade wenn man dies mit der „Integrationsfreundlichkeit“ des Bundestags kontrastiert oder aber sich das Verfassungsverständnis „offener“ Staatlichkeit der 1950er-/60er-Jahre in Erinnerung ruft: etwa am Beispiel des schon ausgefertigten, dann aber an Frankreichs Kommunisten und Nationalisten gescheiterten EVG-Vertrags zur supranationalen Armee oder Walter Hallsteins Diktum vom „unvollendeten Bundesstaat“.

Kulick/Vasel bestätigen für die Europa-Rechtsprechung ebenfalls die konservativ-etatistische Spur, in der das Gericht von den berühmten Solange-Entscheidungen bis zum aktuellen EZB-Urteil Vorbehalt an Vorbehalt gegenüber der Integration anhäufe: „Dem [...] Grundrechtsvorbehalt folgten der Demokratievorbehalt, der Vorbehalt deutscher Staatlichkeit, ein ausdifferenzierter Identitätsvorbehalt, der Kompetenzeinhaltungsvorbehalt und der diese absichernde Kontrollvorbehalt durch das Bundesverfassungsgericht“ (169 f.). „Ausgangs-, Bezugs- und Endpunkt“ bleibe dabei der „Staat“ (173) und seine vermeintlich zeitlosen Aufgaben, gekoppelt an eine „Umdeutung“ (189) der „Ewigkeitsklausel“ (Art. 79 III GG), die gegen Europa in Stellung gebracht werde. Zu Recht stellen die Autoren fest, dass der dabei im Lissabon-Urteil vorgenommene Versuch einer Staatsaufgabenlehre an „Musealisierung“ grenze – und so kann ergänzt werden: aus der vordemokratischen Mottenkiste der Staatstheorie des 19. Jahrhunderts stammt.

Bleibt abzuschließend zu fragen: Warum ist das Bundesverfassungsgericht ein „konservatives Gericht“? Jenseits der im „Hüten“ der Verfassung und in der juristischen Dogmatik selbst angelegten konservativen Tendenzen sehen Kulick/Vasel die beiden eigentlichen Gründe in der Machtpolitik und in den staatstheoretischen Präferenzen. Seine etatistische Rechtsprechung bei den Grundrechten oder der europäischen Integration sicherten dem Gericht Einfluss sogar über die bloße Selbstbehauptung im Institutionengefüge des politischen Systems hinaus, namentlich gegenüber der Fachgerichtsbarkeit (bis weit in das Zivilrecht), dem Parlament und auch dem EuGH. Hiermit einher geht eine Kompetenzausweitung bis zu seiner eingangs kritisierten „Entgrenzung“. Die andererseits zugleich auffallende Zurückhaltung bei „hoher“ Regierungspolitik – etwa mithilfe der konservativen „Kernbereichslehre“ exekutiver Eigenverantwortung – diene genauso machtpolitischen Erwägungen. Denn das Gericht, das „die Machtprobe mit dem Gesetzgeber [...] nicht meidet“, „scheut [...] das Kräftemessen mit der Regierung“ (214 f.).

Der Etatismus des Bundesverfassungsgerichts ist aber auch Ausdruck seiner politisch-theoretischen Präferenzen in der Tradition der deutschen Staatslehre steht. Ob Grundrechte, Religionsverfassungsrecht, Gewaltenteilung oder europäische Integration – wie König „Midas“ verwandle das Verfassungsgericht „alles, was es berührt“, zu „Staat“ (219), notfalls bei privaten Akteuren durch Analogie („quasi-staatlich“). Für „demokratische Verfasstheit“ jenseits des Staates, für ein „Denken von der Verfassung her [...] scheint [...] zuweilen nur wenig Raum zu bleiben“ (221)“. Dabei bediene sich das Gericht einer regelrechten „Camouflagetechnik“ (223) – insbesondere durch „Musealisierung“ (s. o.) –, um durch verschiedene Formen seiner dogmatisch konservativen Rechtsprechung die außerjuristischen Motive zu verschleiern und „unpolitisch“ zu erscheinen. Das sichere dem Gericht auch die Akzeptanz seiner Entscheidungen – ist doch der „Etatismus“, so kann ergänzt werden, zugleich eingeschrieben in die allgemeine deutsche politische Kultur. Zu viel davon aber, so Kulick/Vasel, berge die Gefahr der Delegitimierung. Sie raten dem Gericht daher im eigenen machtpolitischen Interesse der Selbstbehauptung: „Weniger Staat, mehr Skepsis gegenüber der Regierung“ (228). Dieser Empfehlung des vorzüglichen Buchs ist nichts hinzuzufügen.

 

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Bibliografische Angaben

 

Gerhard Czermak

Siebzig Jahre Bundesverfassungsgericht in weltanschaulicher Schieflage

Baden-Baden, Nomos 2021

 

Andreas Kulick / Johann Justus Vasel

Das konservative Gericht. Ein Essay zum 70. Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts

Mohr Siebeck 2021

 

Kristina Stiegemeyer

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Berlin, Duncker & Humblot 2020

 

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