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Uwe Carstens (Hrsg.)

Ferdinand Tönnies. Der Sozialstaat zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2014 (Staatsverständnisse 70); 233 S.; 39,- €; ISBN 978-3-8487-1626-5
Ferdinand Tönnies ist nicht nur ein Klassiker der Soziologie, der lange Zeit in der zweiten Reihe hinter Weber, Durkheim und Simmel zurückstand, sondern er ist auch als politischer Denker von jeher stark ambivalent rezipiert worden. So ungewiss seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus war, sein Insistieren auf dem Gemeinschaftsbegriff gegenüber der individualistischen Gesellschaft, seine Parteinahme für die Ideen von 1914 sowie seine Liberalismus‑Kritik machten ihn aus Sicht vieler Vertreter der deutschen Nachkriegssoziologie (René König, Ralf Dahrendorf etc.) angreifbar. Vor diesem Hintergrund mussten seine nonkonformistischen Schriften aus dem Kaiserreich, die Aneignung des westlichen Denkens (vor allem: Hobbes) oder seine Theorie der öffentlichen Meinung zurücktreten. Dieser Sammelband, zahlreiche Autoren sind Mitglieder der Ferdinand‑Tönnies‑Gesellschaft, tritt diesem Defizit entgegen und präsentiert überzeugend den Staatstheoretiker – überzeugend schon deshalb, weil die Gründergeneration der Soziologie ohnehin Staatswissenschaftler oder Nationalökonomen waren. Mehrere Autoren heben den humanistischen Weltbürger, den Europäer, den Demokraten, den Kapitalismuskritiker, den Ökologen und den Vordenker der Weltgesellschaft hervor. Solche Zuweisungen mögen sicherlich zutreffend sein und helfen, einen neuen Blick auf Tönnies zu werfen. Sie überblenden aber die Ambivalenzen in dessen Schriften, wie sie etwa in dem Beitrag von Alexander Wierzock zu seiner Parteien‑ und Parlamentarismuskritik oder in dem seine Widersprüche dokumentierenden Aufsatz von Niall Bond thematisiert werden. Demokratie kann eben sehr viel meinen. Ebenso wie Carsten Schlüter‑Knauer hebt Cornelius Bickel Tönnies‘ Nähe zu Hermann Heller und Rudolf Smend hervor – was vielleicht ambivalenter ist, als der Autor zu suggerieren vermag. Dennoch interpretiert er überzeugend „Gemeinschaft und Gesellschaft“ nicht als sich ausschließende Dichotomie, sondern als grundlegendes Problem der Moderne, das einer institutionellen Vermittlung bedarf. Ob Tönnies an einer politischen Vermittlung überhaupt interessiert war oder ob nicht gerade sein Pessimismus ihn daran hinderte, ist nicht ausgemacht. Unabhängig von solchen weitergehenden Fragen liegt hier ein sehr gelungener Sammelband zu Tönnies‘ Staatsverständnis vor.
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Rubrizierung: 5.465.41 Empfohlene Zitierweise: Frank Schale, Rezension zu: Uwe Carstens (Hrsg.): Ferdinand Tönnies. Baden-Baden: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38513-ferdinand-toennies_46706, veröffentlicht am 11.06.2015. Buch-Nr.: 46706 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken