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Florian Grotz: Neue Welt – andere Politik? Politikwissenschaftliche Vermessungsversuche

26.04.2023
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Baden-Baden, Nomos 2022

Dieses Buch entstand im Nachgang zur 2021 stattgefunden 38. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP). Fokus waren die Effekte multipler Krisen, die die Rahmenbedingungen politischen Handelns in der letzten Dekade nachhaltig umformten, darunter digitale Transformation, Klimawandel, Autoritarismus, Populismus und die Krise des Multilateralismus. Thomas Mirbach folgert in seinem Resümee zur Lektüre, dass sich zu „bereichsübergreifende[n] Vermessungsversuche[n]“ neuer Politik auch der Blick auf die Politische Soziologie lohne. (tt)


Eine Rezension von Thomas Mirbach

Die 38. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP) sollte im Herbst 2019 stattfinden; die gesellschaftliche Realität in Gestalt der Covid-19-Pandemie konterkarierte indes alle Planungen und ließ schließlich nur die Durchführung einer digitalen Konferenz im Juli 2021 zu. Vor diesem Hintergrund mutet es fast ironisch an, dass mit dem inhaltlichen Schwerpunkt des Tagungsthemas die Auswirkungen multipler Krisen aufgegriffen werden sollten, welche die Rahmenbedingungen politischen Handelns innerhalb des letzten Jahrzehnts nachhaltig verändert haben. Als erläuternde Schlagworte nennt der Herausgeber „die digitale Transformation der Arbeits- und Lebenswelt, de[n] Klimawandel, de[n] globale[n] Aufstieg des Autoritarismus, die populistische Gefährdung des Parlamentarismus und die Krise des Multilateralismus“ (9). An dieser Stelle sollte betont werden, dass nur einige Beiträge auf die mittlerweile erfolgte Zäsur in der europäischen Nachkriegsordnung eingehen konnten – der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ereignete sich während der redaktionellen Bearbeitung des Bandes.

Der für den Sammelband gewählte Titel „Neue Welt – andere Politik?“ ist anspruchsvoll, signalisiert er doch angesichts der erheblich veränderten nationalen und internationalen Konstellationen die Absicht, jenseits der arbeitsteiligen Spezialisierungen des Faches „explorative Bestandsaufnahmen und (selbst-)kritische Einschätzungen“ aus Sicht der Politikwissenschaft zu entwerfen (10). Das geschieht sehr unterschiedlich und nicht bei allen Beiträgen sind die vom Herausgeber konstatierten Ähnlichkeiten der Argumentationen und Interpretationen (10) erkennbar. Die aufgenommenen Abhandlungen lassen sich trotz sachlicher Überschneidungen grob drei Schwerpunkten zuordnen: (a) Bedeutung der Erosion der liberalen Weltordnung, gleichermaßen für die Ausrichtung von Außenpolitik wie für das Verständnis internationaler Beziehungen, (b) neue Herausforderungen der Demokratie und (c) Möglichkeiten politischer Regulierungen des digitalen Raums.

Bedeutung der Erosion der liberalen Weltordnung

Ralf Fücks betont die Gleichzeitigkeit fundamentaler Veränderungen (Klimawandel, digitale Revolution, demografischer Wandel, Dekonstruktion des Geschlechterbegriffs, Systemkonflikt zwischen liberaler Demokratie und Autoritarismus), mit denen sich moderne Gesellschaften heute auseinandersetzen müssen. Wesentliche Herausforderungen für die Handlungsfähigkeit liberaler Demokratien sieht er deshalb angesichts zunehmender sozialer, kultureller und politischer Polarisierungen zum einen in der Erneuerung eines „republikanischen Wir“. Zum anderen – mit spezifischer Geltung für Deutschland – in der Entscheidung für eine „neue Wehrhaftigkeit“ und den Aufbau einer robusten Sicherheitspolitik im Rahmen der NATO. Stefan Mair greift den letztgenannten Aspekt auf und rückt ihn zunächst in den Kontext der bisher nur mangelhaft entwickelten europäischen strategischen Souveränität. Darüber hinaus müsse Deutschland sein generelles Bekenntnis zum Prinzip des Multilateralismus (im Sinne einer wertebasierten Außenpolitik) kritisch und zugleich realistisch mit Blick auf die unübersehbare Schwächung einer regelbasierten Weltordnung überprüfen.

Sehr entschieden diskutiert Christopher Daase mögliche Ursachen des Scheiterns der liberalen Weltordnung unter inhaltlichen und konzeptionellen Gesichtspunkten. Der russische Angriff auf die Ukraine habe das Ende der liberalen Weltordnung besiegelt, allerdings sei für deren Erosion – und ihrer Elemente Demokratisierung, Freihandel, Multilateralismus und Verrechtlichung – nicht allein das Agieren von Russland oder China verantwortlich, mindestens ebenso habe der „Triumphalismus des Westens“ dazu beigetragen, der „seine kurzfristige Überlegenheit auszubauen und zu institutionalisieren suchte“ (162). Theorien der Internationalen Beziehungen sollten sich deshalb mit der Frage auseinandersetzen, weshalb die liberale Weltordnung von relevanten Akteuren als eine Form von „Zwangsherrschaft“ angesehen werde. Eine theoretisch und empirisch tragfähige Erklärung sieht Daase in der Konzeptualisierung der internationalen Beziehungen als einer – Widerstand auslösenden – Herrschaftsordnung. Diese Perspektive könnte auch die bisher eher separat diskutierten Ansätze von Hegemonie, Hierarchie und Autorität verknüpfen (vergleiche Daase / Deitelhoff 2015).

Neue Herausforderungen der Demokratie

In einem ausdrücklich persönlich gehaltenen Duktus setzt sich Peter Graf Kielmansegg mit der Frage auseinander, was sich für ihn im beginnenden 21. Jahrhundert als epochal neu darstellt. Bemerkenswert erscheint, dass er − neben Chinas Aufstieg zur Weltmacht und der Klimakrise − auf zwei forschungstechnische Entwicklungen hinweist: die Kommunikationsrevolution und die Möglichkeiten zum verändernden Eingriff in das menschliche Genom. Mit der Digitalisierung sind noch nicht absehbare Auswirkungen auf die repräsentative Architektur der Demokratie verbunden und die Gentechnik wirft substantielle Fragen auf, ob und in welcher Weise Politik die Verwendung biowissenschaftlicher Innovationen regeln kann. Angesichts der Summe der Herausforderungen erscheint die Zukunft von Demokratien prekär, weil normatives Selbstverständnis und faktische Handlungsfähigkeiten mehr und mehr auseinander klaffen. Zu einer im Ergebnis ähnlichen Einschätzung kommt auch Dirk Jörke nach einer Sichtung zahlreicher Krisendiagnosen der Demokratie. Im Kern beruhe die aktuell einschlägige Debatte auf der − sei es impliziten, sei es expliziten − Annahme, ein Durchlaufen der Krise werde zu einer wie auch immer gearteten Erneuerung der Demokratie führen. Dagegen setzt er die starke These, wir hätten es gegenwärtig mit einem gesellschaftsstrukturell bedingten Wandel der politischen Systeme westlicher Gesellschaften zu tun, welcher mit den zentralen Versprechen moderner Demokratie hinsichtlich zunehmender politischer und sozialer Gleichheit kaum noch vereinbar sei. Prozesse beschleunigter Modernisierung − hier verweist Jörke vor allem auf die zunehmende Heterogenisierung der Bevölkerung, Globalisierung, Oligarchisierungstendenzen und der Verlust politischer Gleichheit − hätten mittlerweile eine Intensität erlangt, die die vormodernen (sittlichen, institutionellen, materiellen) Voraussetzungen von Demokratie aufzehrten. Und für das, was auf eine derartige Erschöpfung von Demokratie folgen könnte, fehlten uns einstweilen noch die Begriffe. Wesentlich zuversichtlicher, was die Zukunftsfähigkeit parlamentarischer Demokratien betrifft, argumentiert Suzanne S. Schüttemeyer in ihrer Diskussion gängiger Defizitbehauptungen, die sich auf Phänomene wie Exekutivdominanz, parlamentarische Selbstentmächtigung und Repräsentationslücken berufen. Vielfach beruhten derartige Diagnosen auf einer unreflektierten Fortschreibung klassisch-liberaler Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, die mit der Funktionsweise des modernen parteiendemokratischen und hoch professionalisierten Parlamentarismus nicht vereinbar seien. Auch hinsichtlich der immerhin von ihr eingeräumten offenen Fragen im Kontext zunehmender Internationalisierung, setzt sie auf die Lernfähigkeit des Parlamentarismus als Regierungsform. Als gewisse Entwarnung gegenüber möglichen krisenbedingten Einbrüchen der politischen Unterstützung lässt sich auch der Beitrag von Steffen Mingenbach lesen, der auf Basis einer 2020 und 2021 durchgeführten Befragung von Jugendlichen empirisch keine Hinweise auf eine pandemiebedingte Verschlechterung von Demokratiezufriedenheit erkennt.

Möglichkeiten politischer Regulierungen des digitalen Raums

Zwei Beiträge befassen sich mit Ansätzen politischer Regulierungen im Feld der Digitalisierung. Janine Schmoldt erläutert am Beispiel des Tallinn Manuals der NATO die Schwierigkeiten, sicherheitsrelevante Tatbestände im Cyberraum durch die Konstruktion von Rechtsnormen zugleich handlungswirksam und widerspruchsfrei zu erfassen. Um grundsätzlichere Paradoxien geht es Wolf J. Schünemann, der bezogen auf Strategien der Desinformationsbekämpfung in Frankreich und Australien befürchtet, dass sich in liberalen Demokratien vermehrt doktrinäre Nationalismen in der Digitalpolitik durchsetzen könnten. Derartige Regulierungen, die teils bestimmte Inhalte beziehungsweise Meinungen, teils den Ursprung von Informationen sanktionieren, würden tendenziell ähnlich wie Autokratien Grenzen verletzen, die bisher die Informationsfreiheit vor staatlichen Eingriffen schützten.

Fazit

Resümiert man die Beiträge der Konferenz noch einmal mit Blick auf die Intentionen der Veranstalter*innen, aus Sicht der Politikwissenschaft bereichsübergreifende „Vermessungsversuche“ im unübersichtlichen Terrain multipler Krisen vorzulegen, dann finden die neuen Herausforderungen im Bereich der Internationalen Beziehungen offensichtlich die größte Aufmerksamkeit. Die Sicht auf die Bestandsfähigkeit von Demokratien, wie wir sie kennen, bleibt – zurückhaltend formuliert – skeptisch. Der Klimawandel wird angesprochen, aber nicht systematisch behandelt und Auswirkungen der Digitalisierung werden, abgesehen von Peter Graf Kielmansegg, nur politikfeldbezogen aufgegriffen.

Anregend könnte hier ein Blick auf Sichtweisen einer Nachbardisziplin sein. Weil sich das „Politische […] gegenwärtig in den gesellschaftlichen Vordergrund [drängt] wie vielleicht seit den späten 1960er-Jahren nicht mehr“ (Vorstand 2019, 401), hat die Sektion Politische Soziologie der deutschen Gesellschaft für Soziologie nahezu zeitgleich wie die hier besprochene Konferenz ein Symposium zum Verhältnis von Politik und Soziologie durchgeführt (Vorstand 2019). Vergleicht man die beiden Veranstaltungen, dann fällt auf, dass sich die soziologischen Beiträge sehr viel stärker mit der Frage auseinandersetzen, welche Art von Wissen qua Disziplin erzeugt wird.

Das bietet einerseits in methodologischer Hinsicht die Gelegenheit, den inhärent politischen Charakter der Politischen Soziologie zu betonen. Andererseits werden in materieller Hinsicht blinde Stellen – wie methodologischer Nationalismus oder Postkolonialismus – angesprochen, die eng mit einem eurozentrischen Verständnis der Moderne zusammenhängen. Schließlich wird der Digitalisierung, namentlich deren Auswirkungen auf politische Öffentlichkeiten und die Organisation demokratisch formierter Kollektive, ein deutlich höherer Stellenwert zugeschrieben als im vorliegenden Sammelband. Angesichts dieser unterschiedlichen Perspektiven erschiene es doch sehr wünschenswert, künftige Explorationen zum globalen Thema „Neue Welt – andere Politik?“ auch interdisziplinär zu gestalten.


Literatur

Daase, Christopher / Nicole Deitelhoff (2015): Jenseits der Anarchie: Widerstand und Herrschaft im internationalen System. In: PVS, 56. Jg., Heft 2, S. 299-318.
Grotz, Florian (2022): Neue Welt – andere Politik? Politikwissenschaftliche Vermessungsversuche. Baden-Baden, Nomos.
Vorstand der Sektion Politische Soziologie (2019): Symposion Politik und Soziologie. In. Soziologie, Jg. 48, Heft 4, 401–449.

 

CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

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In dieser Studie wird untersucht, wie das Völkerrecht bei Cyberkonflikten und Cyberkriegsführung Anwendung findet.

 

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Externe Veröffentlichungen

Malte Spielmann / 29.11.2022

Heinrich-Böll-Stiftung

Lothar Probst / 01.10.2016

Blätter für deutsche und internationale Politik

 

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