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Frankreich wählt. Kommt das Ende der V. Republik?

08.05.2017
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PD Dr. phil. Matthias Lemke

Anfang 2015, am Tag des Anschlages auf die Redaktion von Charlie Hebdo, erschien Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“. Die Geschichte, die in naher Zukunft, im Jahr 2022 spielt, handelt vom Niedergang der V. Republik. Der Konflikt zwischen den Rechten auf der einen und den Sozialisten, den Konservativen und muslimischen Kräften auf der anderen Seite droht zu einem Bürgerkrieg zu eskalieren. Um die Machtübernahme des Front National unter der Führung von Marine Le Pen zu verhindern, gehen die Parti Socialiste und die Konservativen ein Bündnis mit der Partei von Mohamed Ben Abbes ein. Einmal zum Staatspräsidenten gewählt, führt er eine Theokratie und die Scharia sowie das Patriarchat und die Polygamie ein. Frankreich wird – zumindest im Roman von Houellebecq – von seinen Ängsten zerrieben: dem Aufstieg der Rechten und der Islamisierung.

Im realen Frankreich des Jahres 2017 stehen gleich zwei richtungsweisende Wahlen an. Einmal die Wahl zum Staatspräsidenten, deren zwei Durchgänge auf den 23. April (erster Wahlgang) und den 7. Mai (Stichwahl) terminiert sind. Am 11. und 18. Juni findet dann die Wahl zur 15. Französischen Nationalversammlung (Assemblée Nationale) statt. In diesem Themenschwerpunkt loten wir die politische Situation im Vorfeld aus.

Beide Wahlen stehen unter denkbar schwierigen Vorzeichen. Die Sicherheitslage ist nach wie vor sehr angespannt. Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 folgten jene auf das Stade de France, mehrere Cafés in Paris und die Konzerthalle Bataclan im November 2015. Bisheriger Endpunkt dieser Entwicklung: die Amokfahrt von Nizza, ausgerechnet am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag. Wegen der Anschläge befindet sich Frankreich derzeit noch bis zum 15. Juli 2017 im Ausnahmezustand. Dass die Ausnahmezustände in der V. Republik ein Charakteristikum sind, wird in einem ausführlichen Aufsatz aufgezeigt.

Zu dieser Sorge um die Sicherheit gesellt sich ein grassierender Populismus, der vom Front National unter der Führung von Marine Le Pen vorangetrieben wird. Le Pen und der Front National spüren derzeit Rückenwind: erst der Brexit, dann die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und nicht zuletzt die breite Unterstützung einer Koalition rechtspopulistischer, nationalistischer Kräfte in Europa, angefangen von Geert Wilders, Hans-Christian Strache bis hin zu Frauke Petry. All das könnte, im Falle des Wahlsieges des Front National, zu einem Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union und schließlich zu deren Zerfall insgesamt führen.

Die Lage ist also ernst und von der wirtschaftlichen Stagnation Frankreichs, einer anhaltend hohen Jugendarbeitslosigkeit, der in Teilen unbeschreiblichen Tristesse in den Banlieues der großen Metropolen sowie um sich greifender Polizeigewalt und Ausschreitungen war bislang noch gar nicht die Rede. Im Rahmen einer ausführlichen Besprechung von Udo Kempfs Einführung in „Das politische System Frankreichs“ wird ein Überblick über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von Deutschlands wichtigstem Partner in Europa vermittelt. Hinweise auf die aktuelle Stimmung in der Bevölkerung finden sich in den Beitrag über die Meinungsforschung, verlinkt sind zudem Blogs, in denen das interessierte Publikum in Deutschland über die Wahlen und die innenpolitische Situation informiert wird.

Im Vorfeld der Wahlen werden ausführlich die wichtigsten Kandidaten (Emmanuel Macron, François Fillon, Bennoît Hamon und Jean-Luc Mélenchon) und die Kandidatin (Marine Le Pen) im Rennen um die Präsidentschaft porträtiert. Gleichzeitig wird ein Blick zurück geworfen auf fünf unglückliche Jahre François Hollande. Eine Übersicht über Thinktanks, die sich in der deutsch-französischen Verständigung engagieren, sowie Auswahlbibliografien – Nachdenken über den Staat, die V. Republik, die Parteien Frankreichs im europäischen Kontext – runden das Angebot ab.

Nach der Wahl ist dann vor der Wahl: Wird alles gut? Frankreich nach dem ersten Wahlgang zeigt sich als politisch stark polarisiertes Land. Emmanuel Macron steht als Sieger des ersten Durchganges vor der großen Herausforderung, dem Populismus eine überzeugende Politik entgegenstellen. Und tatsächlich eröffnet sich dann eine Chance für Frankreich und Europa: Im zweiten Wahlgang setzt sich Macron gegen die Kandidatin des rechtsextremen Front National Marine Le Pen durch. Der Populismus, so waren sich viele Beobachter*innen schnell einig, hat einen weiteren Dämpfer erhalten und die Politik der europäischen Einigung wurde gestärkt. Dennoch sind die Probleme in Frankreich wie in Europa damit keineswegs ausgestanden.

Seinen vorläufigen Schlusspunkt findet die Neusortierung des politischen Spektrums dann mit den Parlamentswahlen im Juni: 75 Prozent der Abgeordneten, die in die Assemblée Nationale einziehen, waren in der vorherigen Legislaturperiode noch nicht dabei. Aber nicht nur das politische Establishment ist abgewählt, auch der Front National bleibt so schwach, dass er keine Fraktion bilden kann. Wie aber wird der politische Neuanfang aussehen: En Marche! – Aber wohin? In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, mit Blick auf Europa sowie in Fragen der inneren Sicherheit zeichnen sich erste Konturen ab.

Abgerundet wird dieser Themenschwerpunkt mit einem Kommentar zur Aufhebung des Ausnahmezustandes am 1. November 2017: Au revoir, Ausnahmezustand? Nicht ganz, lautet die Antwort, werden doch die erweiterten Befugnisse der Exekutive in ein neues Gesetz überführt.

 

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