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Alexander Betts / Paul Collier: Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet – und was jetzt zu tun ist

29.01.2018
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Autorenprofil
Dr. Christiane Fröhlich
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz. München, Siedler 2017

Alexander Betts und Paul Collier treten laut Buchinformation an zu „zeigen, warum eine Politik der offenen Tür ebenso gefährlich ist wie Abschottung.“ Sie wollen außerdem Vorschläge dafür entwickeln, „wie eine neue Flüchtlingspolitik aussehen kann, die ethische, humanitäre und ökonomische Überlegungen vereint“ (10), und richten sich ausdrücklich an politische Entscheidungsträger. Betts ist Professor für Zwangsmigration und Internationale Angelegenheiten an der Universität Oxford, deren Refugee Studies Center er leitet. Collier ist Professor für Ökonomie ebenfalls in Oxford, wo er als Direktor des Zentrums für das Studium afrikanischer Volkswirtschaften fungiert.

Die beiden Autoren liegen in vielen Punkten ihrer Analyse richtig, etwa wenn sie konstatieren, dass die Mehrheit der vor Krieg und Gewalt fliehenden, aktuell etwa 65 Millionen Menschen als Binnenvertriebene in ihren eigenen Ländern bleibt. Etwas mehr als 20 Millionen übertreten auf ihrer Flucht allerdings zwischenstaatliche Grenzen, sodass sie als Flüchtlinge gelten. Fast 90 Prozent aller Flüchtlinge bleiben im globalen Süden; nur zehn Entwicklungsländer beherbergen etwa 60 Prozent aller Flüchtlinge dieser Welt, wie Betts und Collier ausführen.

Die Autoren halten fest, dass die internationale Gemeinschaft das Elend dieser Flüchtlinge jahrzehntelang praktisch vollständig ignoriert hat und nur im Falle einer Katastrophe überhaupt aktiv geworden ist, in der Regel über humanitäre Hilfe, die über die Vereinten Nationen in die betroffenen Gebiete geleitet wurde. Ohne einen im Vergleich zwar verschwindend geringen, gemessen an früheren Zahlen aber dennoch deutlichen Anstieg der Zuwanderung aus armen Teilen der Welt in reichere Gebiete wäre das vermutlich auch heute noch so – ganz nach dem Prinzip „aus den Augen […] aus dem Sinn“ (13). Doch insbesondere der Krieg in Syrien, der rund die Hälfte der dortigen Bevölkerung, etwa 10 Millionen Menschen, zu Flüchtlingen gemacht hat, und die Aussichtslosigkeit ihrer Situation sowohl innerhalb von Syrien (ca. 6 Millionen) als auch außerhalb (ca. 4 Millionen) in den Nachbarländern Libanon, Jordanien und Türkei führte dazu, dass im Jahr 2015 mehr als eine Million Menschen nach Europa flohen.

Schnell war die Rede von einer „globalen Flüchtlingskrise“, doch wie die Autoren richtig feststellen, handelte es sich in erster Linie um eine europäische Krise und zwar eine „Krise der Politik“, keine „Krise der Zahlen“ (14). Das europäische System offenbarte unter dem plötzlichen Andrang dramatische Schwächen, sodass katastrophale Zustände auf dem Mittelmeer, an europäischen Stränden, auf der sogenannten Balkanroute, an europäischen Bahnhöfen und Grenzen entstanden. Plötzlich wurde den Geflüchteten sehr viel Aufmerksamkeit zuteil – allerdings nur denjenigen, die nach Europa aufgebrochen waren, nicht den 90 Prozent, die im globalen Süden blieben. Und hier entlarven die Autoren die Perfidität und Hybris des aktuellen globalen Flüchtlingsregimes, das sie als „völlig dysfunktional“ charakterisieren. Sie schreiben:

„Den 135 Dollar an öffentlichen Mitteln, die für einen Asylsuchenden in Europa ausgegeben werden, steht nur ein Dollar entgegen, der für einen Flüchtling in den Entwicklungsländern aufgebracht wird. Von den vier Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei, im Libanon und in Jordanien bekommt nur einer von zehn irgendeine materielle Unterstützung vom Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) oder seinen Partnerorganisationen. Außerdem verfügen die meisten Flüchtlinge rund um den Erdball nicht über die notwendige Selbstständigkeit, um sich und ihren Angehörigen selbst zu helfen: Sie dürfen nicht arbeiten und bleiben somit von einem System abhängig, das sie im Stich lässt.“ (16)

Doch das Buch reflektiert eben auch Paul Colliers in seinem vorherigen Buch „Exodus“ ausgeführte Abneigung gegenüber massenhaften Migrationsbewegungen und wachsender gesellschaftlicher Diversität in Industriestaaten sowie wohl auch das Bedürfnis beider Autoren, den politischen Wert (englisch ‚impact‘) ihrer Arbeit zu verdeutlichen und politische Entscheidungen zu beeinflussen. Der Band wurde im Kontext einer akuten, drängenden Krise verfasst, auf die Politiker*innen überwiegend reagierten, indem sie Migration als krisenhaft und kritisch darstellten, während in der europäischen Medienlandschaft oftmals Ängste vor Fremdheit und einwanderungsbedingten Sicherheitsrisiken geschürt wurden. Das Buch scheint zum Ziel zu haben, auf diese Sichtweisen schnelle und ergebnisorientierte Antworten zu liefern, die nicht besonders risikobehaftet sind. Leider geht dies an vielen Stellen auf Kosten einer nuancierten und detailreichen Analyse der Komplexität von Migration, Flucht, Einwanderung und Integrationsbemühungen.

So liest sich das gesamte Buch im Grundton als ein Plädoyer für den Verbleib von Geflüchteten in ihren Staaten oder zumindest ihren Weltregionen, unter anderem, da dies „deutlich günstiger“ sei. Als weiterer wichtiger Grund für eine „Privilegierung der Heimatregion“ wird angesichts einer zukünftig voraussichtlich eher wachsenden Zahl von Schutzsuchenden „Nachhaltigkeit“ (183) angeführt. Wie günstig, dass Europa dann weniger bis gar keine Flüchtlinge aufnehmen müsste! Die Autoren stehen zudem Ideen wie der, dass Mauern an nationalstaatlichen Grenzen ein hilfreiches Mittel zur Abschottung seien und dass Menschen in ärmeren Weltregionen zwangsläufig in großer Zahl in reichere Gebiete aufbrechen wollen, überraschend unkritisch gegenüber – zumindest hinterfragen sie sie nicht.

Insgesamt bleibt das Buch hinter seinen vollmundigen Versprechen zurück und ist weit davon entfernt, echte Alternativen zum existierenden, dysfunktionalen und unmenschlichen Flüchtlingsregime anzubieten. Ein Anfang wäre es, Geflüchtete (und in der Tat eigentlich jede Art von Migrant*in) nicht länger als ‚Problem‘ darzustellen, das ‚gelöst‘ werden muss. Das könnte dazu beitragen, grundlose Befürchtungen und Mythen in Bezug auf Einwanderer*innen und darauf gründenden Fremdenhass zu bekämpfen statt ihn implizit zu befeuern.

 

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Aus der Annotierten Bibliografie


Paul Collier

Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

München: Siedler Verlag 2014; 314 S.; geb., 22,99 €; ISBN 978-3-88680-940-0
Nur wenige Politikfelder sind derart emotional und ideologisch aufgeladen wie das der Migrationspolitik. Der britische Ökonom Paul Collier hingegen nimmt eine wohltuend nüchterne Perspektive ein: Welche Folgen hat Migration für die Aufnahmegesellschaften, für die Migranten selbst und für die Zurückgebliebenen? Seine zentrale These lautet: Migration ist nicht gut oder schlecht – auf das Ausmaß kommt es an. Im globalen Maßstab mögen Migrationsbewegungen den volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen erhöhen – zu ihren Gewinnern und Verlierern sowie ...weiterlesen


Armin Nassehi / Peter Felixberger (Hrsg.)

Wohin flüchten?

Hamburg: Murmann 2015 (Kursbuch 183); 192 S.; 19,- €; ISBN 978-3-86774-425-6
Für die zahllosen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung oder Armut und in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihre Heimat gen Europa verlassen, ist die Titelfrage „Wohin flüchten?“ eine existenzielle – und sie scheint angesichts der Unfähigkeit der europäischen Politik, auf die gegenwärtigen Migrationsbewegungen angemessen zu reagieren, brisanter denn je. Mit diesem Kursbuch werden die „ungeklärt[en…] Gemengelagen um Flucht und Vertreibung“ (4), die die öffentliche Diskussion über die sogenannte Flüchtlingskrise bestimmen, aufgegriffen. Dies geschieht ...weiterlesen


Aus den Medien

Ivan Krastev, interviewt von Matthias Kalb
Die Flüchtlingskrise hat Europa so verändert wie 9/11 die USA
Süddeutsche Zeitung, 23. Dezember 2017

Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev, der 2017 das Buch „Europadämmerung“ vorgelegt hat, konstatiert, wie sehr die aktuelle Flüchtlingsbewegung Europa verändert hat – die Bruchlinien zwischen West- und Osteuropa seien unübersehbar geworden: „Ich bin überzeugt, dass wir Europäer nie mehr zurückkehren werden zu einer EU-Politik, wie sie vor 2015 möglich war. Die Flüchtlingskrise machte Unterschiede sichtbar, die lange ignoriert wurden.“ 

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