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Thomas Gerhards

Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2013 (Otto-von-Bismarck-Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 18); 514 S.; Ln., 68,- €; ISBN 978-3-506-77747-8
Dem Blick auf die Ahnen liegt in Deutschland notwendig ein Zwiespalt zugrunde. Während in Frankreich bedeutende Historiker wie Ernest Renan oder Jules Michelet, über dessen Volks‑ und Revolutionsbegriff 2012 eine lesenswerte Studie erschien, die nationale Geschichtsschreibung weiterhin zu befruchten vermögen, wird kein deutscher Interpret der Zeitläufte (vor allem der Ära der Reichseinigung) Taktgeber moderner Wissenschaft sein können. Thomas Gerhards unternimmt mit der Studie, die – aufarbeitend – unvoreingenommene Wertungen bietet, eine Reise entlang der Wirkung von Treitschkes Thesen zu Krieg und Frieden, zum „Socialismus“, zur „Judenfrage“, zu fast jedem Gegenstand der Tagespolitik. Als historische Arbeit im besten Sinne erhellt sie für jede Epoche Schlagworte, die aus dem unerschöpflichen Fundus von Reden und Aufsätzen Treitschkes aufgegriffen, oft symbolhaft überhöht und nicht selten missbraucht wurden, ordnet sie nüchtern ein und spart nicht mit überraschenden Einblicken: Gerhards zitiert Kritik von Nationalsozialisten am „liberalistischen Antisemitismus“ Treitschkes (232) wie Lobreden von Sozialisten (81), die in der späten DDR aufgegriffen wurden. Das 1941 im Exil verfasste Urteil Thomas Manns von „wachsender Verwilderung und Malignität“ (253) bleibt ohne Einordnung, obgleich die Außensicht dies nahelegt. Die angelsächsische Rezeption sieht in Treitschke ein zeitloses Barometer der sozialen Lage in Deutschland (274). Nicht nur angesichts der bissigen, 1870 formulierten Sätze aus „Was fordern wir von Frankreich?“ sucht der Rezensent einen vergleichenden Blick über den Rhein vergebens. Knapp fällt das Kapitel zur Wahrnehmung Treitschkes in der DDR aus. Kämpfe um historische Deutungen prägte meist geistige Enge: Wer in der frühen Bundesrepublik als „geistiger Nachfahre Treitschkes“ (295) galt, war im öffentlichen Diskurs diskreditiert. Gerhards kann indes nachweisen, dass mit dem Schreckbild kaum erfolgreiche Geschichtspolitik zu machen ist – der Historiker also keineswegs als damnatio memoriae aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet. Dies gilt selbst für umbenannte Straßen (403). Vielleicht liegt das auch an Treitschkes häuslich wirksamen Publikationsorten wie dem Blatt „Die Gartenlaube“.
Sebastian Liebold (LIE)
Dr., Politologe und Zeithistoriker, wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.3 | 2.31 | 2.37 Empfohlene Zitierweise: Sebastian Liebold, Rezension zu: Thomas Gerhards: Heinrich von Treitschke. Paderborn u. a.: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35938-heinrich-von-treitschke_43729, veröffentlicht am 14.07.2013. Buch-Nr.: 43729 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken