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Olivier Costa / Nathalie Brack: How the EU Really Works

28.06.2019
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Autorenprofil
Dr. Michael Kolkmann
Aberdeen, Routledge 2018

Mit der Europawahl vom Mai 2019 und den derzeitigen Verhandlungen in Europäischem Rat und Europäischem Parlament über die Neubesetzung gleich einer ganzen Reihe von Spitzenpositionen ist die Europäische Union wieder verstärkt in den Fokus politikwissenschaftlicher Forschung geraten. An Fachliteratur mangelt es mit Blick auf die europäische Politik nicht. Allerdings kranken viele Publikationen in der Regel an zwei Defiziten: Aufgrund der kontinuierlichen Fortschreibung des europäischen Projektes sind zum einen viele Werke bei Erscheinen nicht mehr notwendigerweise aktuell, und zum anderen gehen eine Reihe von Beiträgen über die Beschreibung von Institutionen und politischen Prozessen nur selten hinaus.

Umso löblicher ist eine englischsprachige Neuerscheinung zweier französischer Politikwissenschaftler, die beides vereint: Das Buch befindet sich auf dem Stand von Frühjahr 2019, ist also in Bezug auf die dargestellten empirischen Befunde hochaktuell, und die Deskription europäischer Politik wird an zentralen Stellen ergänzt durch dezidiert politikwissenschaftliche Zugänge zum Thema. Mit „How the EU Really Works“ legen Olivier Costa, der Politikwissenschaft an den Universitäten Bordeaux und Brügge lehrt, und Nathalie Brack, derzeit in Brüssel und ebenfalls Brügge wissenschaftlich tätig, eine Neuauflage ihres Buches zum politischen System der EU vor.

Einleitend beschreibt das Autorenduo das System der EU als „an original construction, and an undeniable success“ (1). Zugleich betonen sie, dass die Integrationsgeschichte der EU stets von Rückschlägen, Umwegen und Sackgassen gekennzeichnet war. Auch in Bezug auf die öffentliche Unterstützung europäischer Politik bei den europäischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern lässt sich eine ambivalente Bilanz ziehen: „The issue of public opinion, which, in the 1980s, did not really impact the EU, now weighs significantly on the determination of its agenda and decision-making“ (6). Zugleich handelt es sich bei der EU um ein politisches System, das derzeit aus unterschiedlichen Richtungen unter Druck steht (vgl. 1-17). An dieser Stelle begründen beide Autoren, warum die wissenschaftliche Beschäftigung mit der EU lohnt – und mit welchen Herausforderungen diese Beschäftigung im Jahre 2019 einhergeht.

Im ersten Kapitel geht der Blick der Autoren zurück auf die Gründungsmotive der Gemeinschaft. Erinnert wird dabei daran, dass die Idee einer europaweiten Zusammenarbeit bereits älter ist als die Europäische Gemeinschaft (EG). In sieben zeitlich gegliederten Abschnitten wird daraufhin die Genese und Entwicklung von EG und EU geschildert.
Danach wechseln die Autoren auf die Meta-Ebene und stellen theoretische Ansätze zur Analyse europäischer Politik vor (Kapitel zwei). Neben neofunktionalistischen, intergouvernementalen und föderalistischen Ansätzen wird insbesondere die „normalization of EU studies“ (55) in den Blick genommen und der Begriff der „Europeanization“ (59) näher erläutert.

Anschließend stehen in gleich mehreren Kapiteln die politischen Institutionen im Mittelpunkt, aufgeteilt nach der exekutiven und legislativen Gewalt sowie den einschlägigen Kontrollorganen. Unter letzteren werden der Europäische Gerichtshof, der Rechnungshof, das Amt des europäischen Ombudsmannes sowie OLAF, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung, zusammengefasst.

Kapitel sechs illustriert, dass Costa und Brack auch vermeintlich nebensächliche Themen an zentraler Stelle aufgreifen, die in anderen Einführungswerken nicht oder nur am Rande erwähnt werden, so etwa die Rolle der nationalen Parlamente im Prozess der europäischen Politikgestaltung oder die Bedeutung der nichtinstitutionellen Akteure in der europäischen Politik.

Die oben erwähnten Abschnitte, die eher die Darstellung der institutionellen Strukturen berücksichtigen, werden im siebten Kapitel ergänzt durch die ausführliche und detaillierte Darstellung des politischen Entscheidungsprozesses. Die Analyse unterschiedlicher Entscheidungsmodelle in Europa schließt sich an (Kapitel acht). Dabei werden zwei Aspekte in den Mittelpunkt gestellt: zum einen „the segmentation of European policy making“ (276) sowie zum anderen die Rolle der Interessengruppen und Lobbyorganisationen unter der Überschrift „from ‚co-option‘ to civil European dialogue“ (279). Vertieft werden diese Ausführungen durch eine Perspektive von „public policy networks“ (284).


Entstanden ist so ein sehr breit angelegtes Kompendium europäischer Politik, das zudem – von den Ergebnissen der jüngsten Europawahlen abgesehen – empirisch auf dem neuesten Stand ist. Dabei überzeugt die durchgehende Problemorientierung der Argumentation sowie die mehrschichtige Perspektive auf die unterschiedlichen Bestimmungsfaktoren europäischer Politik. Für die Leser*innen ist der Versuch von Costa und Brack sehr hilfreich, systematische Grundlagen des Themas sowie aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen miteinander in Zusammenhang zu bringen und immer wieder konkret aufeinander zu beziehen.

Hilfreich wäre es höchstens gewesen, aktuelle Herausforderungen wie die Flüchtlingsthematik oder die BREXIT-Krise ausführlicher zu berücksichtigen. Beide Themen werden an unterschiedlichen Punkten erwähnt, aber nicht systematisch in den Gang der Argumentation einbezogen und damit für die Befunde der Arbeit fruchtbar gemacht.
Ergänzt wird das Buch durch ein ausführliches, nach thematischen Schwerpunkten gegliedertes Quellenverzeichnis. Durch die zahlreichen Tabellen, Schaubilder und Infokästen eignet es sich hervorragend als allgemeine Einführung in die Politik der Europäischen Union; gleichwohl kann es aufgrund der systematischen Herangehensweise der Autoren auch von fortgeschrittenen Europaforscherinnen und -forschern mit großem Gewinn gelesen und studiert werden. Kurz: Eine bessere Einführung in die Geheimnisse europäischer Politik ist derzeit nicht zu finden.

 

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