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Christian Boulanger

Hüten, richten, gründen: Rollen der Verfassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns

Berlin: epubli 2013; XVIII, 374 S.; pb., 34,50 €; ISBN 978-3-8442-7470-7
Politikwiss. Diss. FU Berlin; Begutachtung: U. K. Preuß, S. von Steinsdorff. –Vergleichende politikwissenschaftliche Arbeiten zur Verfassungsgerichtsbarkeit sind in der deutschen Literatur immer noch (zu) selten. Christian Boulanger untersucht mithilfe eines Analyserasters die drei möglichen Rollen der Gerichte Deutschlands und Ungarns: die Rolle des Hüters der Verfassung im Sinne des bloß rechtspositivistischen Vollzugs von Normen, des Schiedsrichters von politischen Konflikten sowie des Gründers, der Werte rechtsschöpferisch in die Gesellschaft einschreibt. Dies geschieht für die jeweilige postfaschistische und ‑kommunistische Gründerzeit der Republiken (1952 bis 1961 bzw. 1990 bis 1995). Dass und warum das Bundesverfassungsgericht seine Position als politisch agierendes, machtvolles Verfassungsorgan bis hin zur Selbstermächtigung errang, ist so neu nicht. Auch Boulanger führt diese Rolle als „Gründer“ (187) unter anderem auf das „Misstrauen [...] gegenüber dem demokratischen politischen Prozess“ zurück; dabei „mischten sich die alte Autoritäts‑, Rechts‑ und Staatsgläubigkeit mit der entsetzlichen Erfahrung davon, was Mehrheiten Minderheiten antun können“ (336). Interessant ist vielmehr Boulangers ausgezeichnetes mehrdimensionales Analyseraster, das auf Richterpersönlichkeiten / Richterverhalten, Regierungssystem, Öffentlichkeit und historische Mentalitäten abstellt – und der sich hieraus ergebende Unterschied zu Ungarn: Dort habe sich die Vorstellung vom verfassungsgerichtlichen „‚Heilsbringer‘“ nicht entwickelt, „weil das Gericht ein Vorschlag aus dem Lager der Reformkommunisten war und zunächst auf großes Misstrauen der demokratischen Opposition stieß“. Die selbstgewählte Rolle des „‚Gründers’ war [...] mehr toleriert als herbeigesehnt“ (337); zugleich habe das Verfassungsgericht viel stärker „wichtige Vorhaben der Regierungen zumindest vorübergehend vereitelt“ und „beide politischen Lager [waren] von seinen Interventionen betroffen“, sodass ihm „diese offene Machtanmaßung nicht verziehen wurde“ (318 f.) – zumal ein weiterer, abfedernder Vetospieler wie der Bundesrat im ungarischen System fehle. Und während das Bundesverfassungsgericht gerade auch im antikommunistischen Kampf ein Verbündeter der herrschenden Eliten gewesen sei, habe das politisch durchaus ausgewogen urteilende ungarische Gericht sich „außerhalb dessen gestellt [...], was für die rechtskonservativen bis rechtsextremen Parteien akzeptabel war“ (333). So gesehen kann man sich über die aktuelle Entmachtung des Gerichts durch die über eine Zweidrittel‑Mehrheit verfügende Regierung Orban kaum wundern.
Robert Chr. van Ooyen (RVO)
Dr., ORR, Hochschullehrer für Staats- und Gesellschaftswissenschaften, Fachhochschule des Bundes Lübeck; Lehrbeauftragter am OSI der FU Berlin sowie am Masterstudiengang "Politik und Verfassung" der TU Dresden.
Rubrizierung: 2.212.3232.3132.612.2 Empfohlene Zitierweise: Robert Chr. van Ooyen, Rezension zu: Christian Boulanger: Hüten, richten, gründen: Rollen der Verfassungsgerichte in der Demokratisierung Deutschlands und Ungarns Berlin: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37365-hueten-richten-gruenden-rollen-der-verfassungsgerichte-in-der-demokratisierung-deutschlands-und-ungarns_45960, veröffentlicht am 31.07.2014. Buch-Nr.: 45960 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken