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Orlando Figes

Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter

Berlin: Hanser 2014; 383 S.; 26,- €; ISBN 978-3-446-24775-8
Die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert als eine andauernde Revolution zu beschreiben, mag auf den ersten Blick wenig plausibel erscheinen. Der Historiker Orlando Figes hat jedoch für diese Betrachtungsweise seine Gründe. Die russische Revolution habe im Jahr 1891 begonnen, als im zaristischen Russland eine schwere Hungersnot geherrscht habe, und sei erst mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 beendet gewesen, lautet seine These. Der Autor sieht den Mythos der russischen Revolution (und später auch den Sieg über Hitlerdeutschland) als ideologische Klammer. Sie habe diese hundert Jahre russischer Geschichte zusammengehalten. „Bis ans Ende ihres Regimes glaubten die Sowjetführer, dass sie die von Lenin begonnene Revolution fortsetzen“ (9) und Lenins utopischen Ziele zu verwirklichen seien, nämlich die Schaffung „eine[r] kommunistische[n] Gesellschaft des materiellen Überflusses für das Proletariat“ und die eines „neuen kollektiven Menschentyp[s]“ (10). Figes unterteilt den Aufstieg und den Fall der russischen Revolution in drei Generationsphasen: Die erste ist die der Altbolschewiki, die in den 1870er‑ und 1880er‑Jahren aktiv waren. Ihr Ziel sei der Aufbau einer neuen kommunistischen Gesellschaft gewesen. Nach dem Sturm auf das Winterpalais im Oktober 1917 und dem Bürgerkrieg gegen die Weißen hätten sie sich als Sieger und ihrer Utopie ganz nahe gefühlt, schreibt Figes. Allerdings sieht er bereits in dem von den Bolschewiki praktizierten Kriegskommunismus die Ursprünge des totalitären Staates, den Josef Stalin vollendete. Der Aufstieg Stalins habe die zweite Phase der russischen Revolution geprägt, denn schon zu diesem Zeitpunkt (1924) seien die Hauptelemente des stalinistischen Regimes etabliert gewesen: „der Einparteienstaat, das Terrorsystem und der Führerkult“ (162) – ergänzt um wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen, wie etwa die Fünfjahrespläne oder die Kollektivierung des Agrarsektors. Vor allem aber habe Stalin auf den Terror gesetzt. „Auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, zwischen August 1937 und November 1938, erschoss man durchschnittlich 1500 Menschen pro Tag.“ (229) Nach dem Tod Stalins 1953 sei es die Rede von Nikita Chruschtschow gewesen, die die dritte und letzte Phase der Revolution eingeleitet habe. Er habe Stalins Verbrechen nur moderat kritisiert, aber nach Meinung des Autors änderte die Rede alles: „Sie steht für den Moment, in dem die Partei Autorität, Einheit und den Glauben an sich selbst verlor.“ (302) Auch Leonid Breschnew und Michail Gorbatschow hätten den dauerhaften Autoritätsverlust des sowjetischen Systems nicht mehr aufhalten können. So gelangt Figes zu dem Schluss: „Politisch gesehen mag die Revolution tot sein, aber sie lebt weiter im Geist jener Menschen, die von ihrem hundertjährigen Zyklus der Gewalt erfasst wurden.“ (356)
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Rubrizierung: 2.622.25 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Berlin: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38625-hundert-jahre-revolution_47045, veröffentlicht am 09.07.2015. Buch-Nr.: 47045 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken