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Thomas Hegghammer (Hrsg.): Jihadi Culture: The Art and Social Practices of Militant Islamists

14.05.2018
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Cambridge, Cambridge University Press 2017

Die Kultur des Dschihad. Kunst und Soziale Praxis der militanten Islamisten

„Militancy is about more than bombs and doctrines. It is also about rituals, customs, and dress codes. It is about music films, and story-telling. It is about sports, jokes and food.“ (10) Dass dies zutrifft, wird eigentlich jedem klar, der sich ausführlich mit der Propaganda des Islamischen Staates auseinandergesetzt hat: Während Propagandavideos bewusst eine westliche Bildsprache verwenden und jederzeit auch als Trailer zu einem Hollywood-Blockbuster durchgehen könnten, zeigt sich das IS-Propaganda Magazin „Dabiq“ in Hochglanz als eine Art Jihadi-Bravo, die deutlich erkennbar an ein westliches Publikum gerichtet ist. Dennoch liegt der mediale und auch der akademische Fokus weitgehend auf Strukturen, Operationen, politischen Zielen und Ideologien der betreffenden Gruppen und blendet die zugrundeliegende Kultur, die Selbstwahrnehmung der Handelnden und die Gefühle, die durch die dschihadistische Medienproduktion evoziert werden, weitgehend aus. Hier kommt der Sammelband von Thomas Hegghammer, Senior Research Fellow am Norwegian Defence Research Establishment (FFI) und apl. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oslo, ins Spiel. In acht Kapiteln befassen er und sein Autorenteam sich mit der Bedeutung von Poesie, Musik, Bildsprache und Literatur in der dschihadistischen Kultur.

Bereits in der Einführung („What Is Jihadi Culture and Why Should We Study It?“, 1-21) präsentiert Hegghammer das Desiderat eines interdisziplinären Forschungsprogramms: „Jihadi culture is hardly an esoteric subject, but one that has bearing on some fundamental questions about human behavior. [...] Research on jihadi culture should therefore interest scholars from a broad range of disciplines, including Islamic studies, anthropology, sociology, psychology, political science, and even economics. In several of the disciplines there already are related research efforts and debates that may inform, and be informed by, the study of Jihadi culture.“ (17)

Robyn Reswell und Bernard Haykel schließen mit ihrem Aufsatz über „Poetry in Jihadi Culture“ (22-41) an und konstatieren – für manchen Leser vielleicht zunächst befremdlich, aber inhaltlich konkludent –, dass die Kultur des Dschihad eine Kultur der Romantik, des Märchenhaften sei: Sie verspreche Abenteuer und gebe vor, dass die Codes des mittelalterlichen Heldentums und der Ritterlichkeit immer noch relevant seien. Alle Dschihad-Dichter stellten sich als Beschützer von Frauen und Kindern dar, insbesondere von Witwen und Waisen. Die Ritter des Dschihad stilisierten sich selbst als die einzigen wahren Muslime, und während sie gegen Windmühlen kämpften, scheine ihr Märchen zu funktionieren. Der Wert dieser Analyse wird schnell deutlich, wenn man auch die Poesie als Teil eines Anwerbenarrativs versteht: IS- Rekruten glaubten nicht, schreiben die Autoren, dass sie in ein staubiges Grenzland zwischen zwei zerfallenden Staaten auswanderten, sondern in ein Kalifat mit einer Geschichte, die länger ein Jahrtausend zurückreicht (35).

Dazu passen auch die Aufsätze von Nelly Lahoud – „A Capella Songs (anashid) in Jihadi Culture“ (42-62) – und von Jonathan Pieslak – „A Musicological Perspective on Jihadi anashid" (63-81) –, die der geradezu typischen Musik der dschihadistischen Szene gewidmet sind. War die Musik generell im islamistisch-salafistischen Milieu ein Tabuthema, haben moderne Dschihadisten inzwischen ihre Bedeutung bei der Untermalung von Videos und Audiobotschaften, aber auch als eigenständiges Propagandamittel erkannt. Die typischerweise a capella vorgetragenen Kampflieder (nashid, pl. anashid) verfügen über eine jahrhundertelange Tradition in der islamischen Kultur, sind aber erst im dschihadistischen Kontext wieder in Mode gekommen. Während zunächst noch traditionelle anashid zur Untermalung der Videos genutzt wurden, werden inzwischen auch eigene Texte geschrieben, in denen die Führer, Helden, Märtyrer und Schlachten besungen werden. Dies ist so erfolgreich, dass einige dieser Lieder bei YouTube Millionen von Followern finden. Auch in Deutschland war das Genre kurz – mit einem deutschen nashid „Dein Junge ist im Jihad“ des damaligen deutschen Rappers Deso Dog – im medialen Fokus. Die Bedeutung von Musik als Werbemittel wird offensichtlich auch von den Rekrutierern beim IS und bei al-Qaida erkannt. So schreibt Lahoud: „We often find anashid mentioned in sections dealing with audio-visual tools and other means that affect the recruits’ emotions (mu'aththirat). Thus it is often dealt with separately from issues pertaining to ideological persuasion and indoctrination.“ (50)

Dem Thema Bildsprache sind die Aufsätze von Afshon Ostovar („The Visual Culture of Jihad“, 82-107) und Anne Stenersen („A History of Jihadi Cinematography“, 108-127) gewidmet. Iain R. Edgar und Gwynned de Looijer („The Islamic Dream Tradition and Jihadi Militancy“, 128-150) gehen in diesem Kontext nochmals vertiefend auf die Nutzung von Träumen ein. Dieser Topos ist bereits von Osama bin Laden bekannt und erfreut sich innerhalb der dschihadistischen Medienproduktion wachsender Beliebtheit.

Im siebten Kapitel („Contemporary Martyrdom: Ideology and Material Culture“, 151-170) untersucht David Cook umfangreiches Quellenmaterial aus textuellen und audiovisuellen Quellen, das sich mit dem Topos des Märtyrers sowie dschihadistischer Erinnerungspolitik und deren Veränderung in den Jahren seit dem afghanischen Jihad beschäftigt. Im achten Kapitel von Hegghammer („Non-military Practices in Jihadi Groups“, 171-201) wird, gestützt auf Primärquellen, die Lebenswelt der Dschihadisten in den Mittelpunkt gerückt.

Der Sammelband kann unumschränkt empfohlen werden. Für das Themenfeld der De-Radikalisierung ist es zwingend notwendig, sich mit den Motivationsdiskursen sowie der globalen Anziehungskraft radikaler Gruppen zu beschäftigten und zu verstehen, auf welche Werbemittel die Rekrutierer zurückgreifen können, um diesen auch inhaltlich begegnen zu können. Die Analysen zeigen zudem, dass sich auch innerhalb der dschihadistischen Szene eine eigenständige ästhetische Kultur herausgebildet hat, die wesentlich zu deren Anziehungskraft beiträgt.

 

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Analyse

Guido Steinberg
Das Ende des IS? Die Fragmentierung der jihadistischen Bewegung
Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 2018/S 20, Oktober 2018


Sammelrezension

Kein Patentrezept. Ansätze der Deradikalisierung

Während über die Radikalisierung und Rekrutierung von islamistischen Extremisten insbesondere seit einem Jahrzehnt intensiv geforscht wird, hat es bis vor Kurzem relativ wenig Literatur zum Thema De-Radikalisierung gegeben. Zwei Studien, die sich als Einstiegs- und Überblickslektüre eignen, werden näher vorgestellt: Hamed El-Said stellt verschiedene De-Radikalisierungskonzepte anhand von Länderbeispielen dar und Angel Rabasa et al. fragen nach generalisierbaren Kriterien für den Erfolg von De-Radikalisierungsmaßnahmen.
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