
Jugoslawien in den 1960er Jahren. Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat?
Die Geschichte Jugoslawiens wird häufig als die eines absehbaren Ver‑ und Zerfalls geschrieben. Mitherausgeber Holm Sundhaussen, emeritierter Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin, hat mit seiner „ungewöhnliche[n] Geschichte des Gewöhnlichen“ (siehe Buch‑Nr. 42788) bereits kürzlich versucht, dieses Paradigma aufzubrechen. Auch der Sammelband will nach der „Logik der Zeit“ fragen anstatt „teleologisch[e] Erklärung[en]“ (6) zu liefern. Als Beispiel dient mit den 1960er‑Jahren ein Zeitraum, in dem eine „kritisch[e] Selbstbeschäftigung mit dem eigenen Sozialismusentwurf“ (11) stattfand, das kommunistische Machtmonopol gleichwohl nicht infrage gestellt wurde. Ausgangspunkt bildet eine viel beachtete Rede Josip Broz Titos vom 6. Mai 1962, in der der Stolz auf das Erreichte mit einer Kritik an Einzelentwicklungen und der Formulierung von Erwartungen an die Zukunft verbunden wurde. Fünf Kapitel widmen sich politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Aspekten der jugoslawischen Geschichte in diesem Zeitraum unter Einbezug globaler Entwicklungen und Abhängigkeiten in einer Phase der Zuspitzung des Ost‑West‑Konflikts. Der Leipziger Südosteuropahistoriker Wolfgang Höpken untersucht die Herrschaftsqualität des Sozialismus in Jugoslawien im Spannungsfeld zwischen Autoritarismus und Liberalismus. Seit Mitte der 1960er‑Jahre fand hier eine Phase der Liberalisierung, verbunden mit der Reformbewegung des sogenannten Kroatischen Frühlings, statt, die 1971 mit rigiden Repressionen beendet wurde. Aleksandar Jakir, Zeithistoriker an der Universität Split, analysiert die wirtschaftlichen Entwicklungen im Betrachtungszeitraum. Hier kam es zur „Hinwendung zu einem selbstverwalteten Sozialismus mit marktwirtschaftlichen Elementen“ (85), die einher ging mit Föderalisierungs‑ und Dezentralisierungstendenzen. Trotz mancher vordergründiger Erfolge wuchsen jedoch die regionalen Ungleichheiten, die Arbeitslosigkeit und die Lebenshaltungskosten. Die sogenannten Goldenen Jahre bleiben also auch in der Rückschau widersprüchlich.