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Heinz Bude / Philipp Staab (Hrsg.): Kapitalismus und Ungleichheit. Die neuen Verwerfungen

30.01.2017
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Frankfurt am Main, Campus Verlag 2016

Soziale Ungleichheit, „das gesellschaftliche Megathema der nächsten dreißig Jahre“ (7), stellt, so die Herausgeber Heinz Bude und Philipp Staab, die starke Aufforderung an die Sozialwissenschaften, gesellschaftlichem Wirklichkeitsbedarf gerecht zu werden. Deshalb sollte die Soziologie die einschlägigen Erfahrungen von Ungleichheit so abbilden, wie sie die Betroffenen erleben, ohne dabei einen lediglich auf Empörungsverstärkung zielenden Gesellschaftsbegriff zu bedienen.

In den fünf Themenbereichen, denen die fünfzehn Aufsätze zugeordnet sind, lassen sich drei übergreifende Analyseperspektiven unterscheiden, die im Horizont der gegenwärtigen Transformationen des Kapitalismus neue Antworten auf die alten Fragen nach Ursachen und Legitimierungen sozialer Ungleichheit suchen. Das betrifft zunächst Veränderungen der Wertschöpfungsstrukturen des Kapitalismus. Anhand der Kreditpolitik der Banken stellt Aaron Sahr drei typische Aneignungsmuster – Zinsasymmetrien, Vermögensinflation, Plünderungszirkel – heraus, die allesamt der Logik des Rent-Seeking folgen und Vermögenszuwächse als materielle Prämien eines Privilegs realisieren. Am Beispiel Indiens und Chinas untersucht Tobias ten Brink zwei erfolgreiche Fälle eines „Staatskapitalismus 3.0“, deren institutionelle Besonderheiten – autoritäre staatliche Akteure, geschützter Binnenmarkt, spezifische Formen von Sozialintegration – lassen beide Länder als faktische (aber nicht begrüßenswerte) Alternative zum liberalen Finanzmarktkapitalismus erscheinen. Der neue Typus des digitalen Kapitalismus, das zeigen Oliver Nachtwey und Philipp Staab an zwei Schlüsselunternehmen des Dienstleistungssektors, zerschlägt Kollektivinstitutionen, die Arbeitskraft wird on demand abrufbar und die Spaltung zwischen schrumpfenden Kernbelegschaften und Kontingenzarbeitskräften an der betrieblichen Peripherie vergrößert sich.

Ein zweiter Schwerpunkt bezieht sich auf die globale Perspektive von Ungleichheit. Mit den blinden Flecken einer immer noch nationalstaatlich fixierten Soziologie setzen sich die Beiträge von Anja Weiß und Manuela Boatca auseinander. Die konzeptionelle Beschränkung auf Nationalstaaten führe unter klassenanalytischen Gesichtspunkten zu Fehlurteilen über globale Ausbeutungsverhältnisse. Die Armen der wohlhabenden Länder sind, obschon innergesellschaftlich objektiv benachteiligt, zugleich Nutznießer nationaler Monopole, „von denen kaum erwartet werden kann, dass sie sich grenzüberschreitend solidarisieren“ (99). Entgegen der implizit meritokratischen Prämisse soziologischer Ungleichheitsforschung, Bildung und Beruf würden als zentrale Indikatoren über soziale Platzierung entscheiden, sei empirisch belegt, dass die „Segmentierung der Welt in (starke oder schwache) Nationalstaaten und die politische Regulation der Migration mindestens ebenso wichtig für Klassenlagen in der Welt sind“ (103). Diesen Einwand verschärft Boatca: Faktisch wie normativ gesehen wirke Staatsbürgerschaft in globaler Perspektive als Ausschlussmechanismus, der willkürlich, „nämlich durch Zuschreibung bei Geburt“ (139), praktiziert werde. Im deutlichen Kontrast zu diesen disziplinkritischen Sichtweisen stellt Heinz Bude heraus, dass die dominierenden Narrative der neueren Ungleichheitsforschung – Aufstiegsgeschichte des globalen Südens vs. Abstiegsgeschichte des globalen Nordens – nur noch paradox aufeinander bezogen werden können.

Diese Paradoxien zeigen sich in besonderer Weise im dritten Schwerpunkt, der den Zusammenhang von aktuellen sozialen Konflikten und Kapitalismuskritik aufgreift. Wolfgang Streeck erinnert in seinem Beitrag (erstmals 2012 in der New Left Review erschienen) daran, dass die mit dem Postfordismus einsetzende systematische Differenzierung von Produkten und Dienstleistungen einen massiven Kommerzialisierungsschub ausgelöst hat, für den besonders Mittelschichten anfällig sind und der die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Gütern, zwischen Politik und Markt zunehmend aushöhlt. Angesichts sinkender Wachstumsraten – so zeigt Florian Butollo unter Bezug auf das Marx‘sche Reservearmee-Theorem – ist der Arbeitsmarkt zunehmend kapitalistischer „Landnahme“ ausgesetzt. In dieser Hinsicht betrifft der „Reservearmeemechanismus“ heute die Aktivierung von Erwerbslosen und unbezahlte Sorgearbeit ebenso wie den Umgang mit Fluchtmigration und die Digitalisierung von Arbeitsprozessen. Mit Blick auf derartige Phänomene entwirft Sighard Neckel einen ambitionierten, an Habermas‘ Untersuchung zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ anschließenden Ansatz von Kapitalismuskritik. Wir erleben gegenwärtig eine paradoxe Transformation der Vergesellschaftung, die „‚neofeudale‘ Muster in der Verteilung von Reichtum, Anerkennung und Macht“ (161) hervorbringt. Zumal die Verschmelzung ökonomischer und politischer Macht in den Händen der neuen Reichtumsoligarchie lässt das Bild vormoderner Prozesse der Klassenbildung entstehen, „bei denen eine Sphärentrennung zwischen Politik und Markt sowie zwischen Gesetz und Wirtschaft überhaupt noch nicht existierte“ (171).

Als Gegenbewegung zu diesen Tendenzen zeichnet sich für Oliver Nachtwey ein neuer Typus des sozialen Konflikts ab, der die demokratische mit der sozialen Frage verknüpft. Aktuelle Protestbewegungen deutet er als das Einklagen eines ganzheitlich gedachten Bürgerstatus, weil zumal jüngere Generationen „Arbeitslosigkeit als Entwürdigung und mangelnde Teilhabe als Verletzung ihrer sozialen und demokratischen Rechte“ (255) erleben. Diese Interpretation wird nicht von allen geteilt. Klaus Dörre setzt sich mit Varianten eines „heimatlosen Antikapitalismus“ auseinander, der (in der Tradition Polanyis) primär soziale und ökologische Folgen von Marktzwängen und weniger Ausbeutung problematisiert. Im Alltagsbewusstsein von Lohnabhängigen sei eine analoge Kritik des überdehnten kapitalistischen Wettkampfsystems sehr wohl verbreitet, vielfach jedoch um den Preis, auch von rechtspopulistischen Bewegungen aufgegriffen und im Sinne einer Ausschließung von Fremden instrumentalisiert werden zu können. Eine Art Resümee dieses vielstimmigen und anregenden Nachdenkens über den neuen Kapitalismus bietet schließlich der Beitrag von Göran Therborn (erstmals 2012 in der New Left Review erschienen). Auch wenn die verfügbare Empirie keine universelle Logik der Globalisierung zu erkennen gibt, kehrt im 21. Jahrhundert „die Kategorie der Klasse als [...] ausschlaggebender Faktor für die Bestimmungen von Ungleichheit“ (294) zurück. Offen bleibt freilich, in welcher Weise wir bei aktuellen sozialen Konflikten von Klasse sprechen können – ob tatsächlich als struktureller Kategorie, die auf eine organisierte Bewegung verweist, oder nicht vielmehr als „Kompass zur Orientierung“ (309), in dem sich die Vielfalt von Ausbeutung und Unterdrückung lediglich spiegelt.

 

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Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen: Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008 (Sonderdruck edition suhrkamp); 58 S.; 7,- €; ISBN 978-3-518-06994-3
Um neue globale Phänomene von Ungleichheit erfassen zu können, sind nach Auffassung von Beck neue wissenschaftliche Methoden geboten. In seiner Eröffnungsrede zum Soziologen-Tag 2008, die in diesem Band gesondert publiziert wird, fordert er die Teilnehmer auf, sich auf die Suche nach diesen neuen methodischen Instrumenten zu machen. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt Beck die These, dass die soziale Ungleichheit ein globales Problem und daher nicht mehr nur im nationalen Rahmen zu unt...weiterlesen

 

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