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Kira Frankenthal und Jannis Jost über „Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis": Terrorismus kann nur durch einen umfassenden Ansatz verstanden werden

11.12.2022
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Autorenprofil
Jannis Jost, M.Litt.
Autorenprofil
Kira Frankenthal, M.A., M.Sc.
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Dipl.-Jur. Tanja Thomsen, M.A.
Wie kann es gelingen, die Erscheinungsformen und komplexen Dynamiken von Terrorismus, Terrorismusangst und Terrorismusabwehr zu erfassen? Bild: UnratedStudio auf Pixabay.
Mit „Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis“ präsentiert das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) im dritten Band seiner Studien zur Terrorismusforschung mit über 90 Autor*innen eine Fülle an Wissen, mittels dessen das Phänomen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln analysiert werden kann. Kira Frankenthal und Jannis Jost berichten im Interview,  welche Fragen sie als Mitherausgeber während des umfangreichen Publikationsprojekts bewegten. Dabei antworten sie auch auf  Fragen zu gesellschaftlicher Resilienz  sowie zu Prävention, Früherkennung und zum aktuellen Forschungsprojekt „ERAME“ (Erkennung von Radikalisierungszeichen in den sozialen Medien). (tt)


Ein Interview mit Kira Frankenthal und Jannis Jost


Die Fragen stellte Tanja Thomsen 


Was motivierte Sie, ein so umfangreiches Handbuchprojekt in Angriff zu nehmen, zusätzlich zum regelmäßig erscheinenden Terrorismus-Jahrbuch?


Im Frühjahr 2019 erhielten wir eine Anfrage vom NOMOS-Verlag, ob wir Interesse hätten, ein Lehrbuch für den Bereich Terrorismusforschung zu erarbeiten. Da es in diesem Forschungsbereich wenig bis gar keine Literatur in der Art im deutschsprachigen Raum gab, haben wir uns über die Möglichkeit gefreut, diese Lücke zu schließen. Aus dem ursprünglich geplanten Lehrbuch entwickelte sich schließlich die Idee eines umfassenden, interdisziplinären Handbuchs, das als Grundlagenbuch für Wissenschaft und Praxis dienen soll.

Das vom Institut für Sicherheitspolitik gGmbH an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (ISPK) regelmäßig veröffentlichte Jahrbuch Terrorismus widmet sich hauptsächlich den aktuellen Trends, Entwicklungen und bietet Länder- sowie Regionalanalysen. Das Handbuch stellt hingegen ein umfangreiches Basiswissen mit hoher Halbwertszeit dar, mit dem das Phänomen Terrorismus aus verschiedenen Blickwinkeln und Disziplinen analysiert werden kann. Das Phänomen Terrorismus einmal komplett zu erfassen, erlaubt es uns auch, die komplexen Wechselwirkungen zu untersuchen, die Terrorismus, Terrorismusangst und Terrorismusabwehr entfaltet. Diese Dynamiken ziehen sich einmal quer durch die Gesellschafft, und damit auch quer durch fast alle Wissenschaftsdisziplinen. Das fanden wir sehr spannend, weil Publikationsreihen wie das Jahrbuch zum Terrorismus die Themen sonst weitgehend isoliert voneinander behandeln.


Gab es lehrreiche Hürden im Entstehungsprozess für Sie als Herausgeber*in? Oder auch besonders positive Heureka-Momente, die man in der Forschungsarbeit ansonsten nicht gehabt hätte?


Eine große Herausforderung für uns war das „Loslassen“. Basierend auf unserem Konzeptentwurf hatten wir konkrete Ideen, wie die Themenbereiche und einzelnen Kapitel aufgebaut und inhaltlich behandelt werden sollten. Die Umsetzung dann an die Autor*innen abzugeben, sie zu inspirieren und auch alternative Herangehensweisen zuzulassen, war nicht immer ganz einfach. Das Ergebnis war jedoch immer ein Gewinn, weil die Autor*innen natürlich die Expert*innen in ihrem Fachbereich sind.

Die Koordination von mehr als 70 Autor*innen stellte eine logistische Herausforderung dar. Allerdings gestaltete sich die Zusammenarbeit mit allen Autor*innen inhaltlich wie zwischenmenschlich sehr angenehm und damit war auch eine große Bereicherung für uns. Was die E-Mail-Kommunikation insgesamt betrifft, so flossen ungefähr 7.260 E-Mails.

Die größte inhaltliche Herausforderung war es, sich auch in für uns fachfremde Disziplinen reinzudenken. Dabei haben wir sehr viel dazugelernt, vor allem mit Blick auf Disziplinen, die man auf den ersten Blick nicht direkt mit Terrorismusforschung in Verbindung bringen würde – unter anderem Musikwissenschaft, Kunstwissenschaft, Sportwissenschaft, Medizin, Mathematik und Ingenieurwissenschaften. Schließlich, mussten wir lernen, unseren Perfektionismus zu überwinden. Bei der Prüfung der Druckfahnen haben wir am Ende zum Beispiel über die Vereinheitlichung von Schreibweisen diskutiert, die nur zwei oder dreimal im gesamten Buch vorgekommen sind – da drohten wir uns in Details zu verlaufen. 


Ein Kernproblem der Forschung ist ja, eine allgemeine Terrorismus-Definition zu finden: Wie haben Sie das für Ihre Arbeit am Handbuch gelöst?


Wir haben die Karten offen auf den Tisch gelegt. Leider gibt es bis zum heutigen Tage keine einheitliche Definition von Terrorismus – weder in der Wissenschaft noch in der Praxis/Politik. Das haben wir auch so dargestellt und erklärt, „warum“ es so schwierig ist, eine allgemeingültige Terrorismusdefinition zu finden. Dennoch existieren einige kerncharakteristische Merkmale, die auf Terrorismus hindeuten, diese haben wir ebenfalls vorgestellt, um zumindest den Ansatz einer Definition/Vorstellung darüber zu vermitteln, was Terrorismus eigentlich ist beziehungsweise sein kann. Ansonsten war es den Autor*innen explizit freigestellt, (begründet) eigene Terrorismusdefinitionen einzuführen, sich auf das Definitionskapitel zu berufen oder sich kritisch davon abzugrenzen.


Das Handbuch bietet ja eine wirklich umfangreiche Gesamtschau vieler Ansätze – mit Beiträgen von 94 Autor*innen aus 30 Fachrichtungen – zu Terrorismus, seinen Ausprägungen, Ursachen und Wirkungen. Was sollen Ihre Leser*innen nach der Lektüre auf jeden Fall mitgenommen haben?


Die Leser*innen sollten mitnehmen, dass das Forschungsfeld „Terrorismus“ sehr komplex ist und nur durch einen umfassenden, interdisziplinären Ansatz verstanden werden kann. Es gibt viele verschiedene Erscheinungsformen und unterschiedliche Gründe, warum Terrorismus entsteht und wie er sich entwickelt. Ebenso vielgestaltig sind daher seine Auswirkungen und dementsprechende Ansätze, wie mit dieser Herausforderung umgegangen werden kann/sollte. Diese Komplexität bedeutet andererseits aber auch, dass man mit quasi jedem akademischen Hintergrund an terrorismusbezogener Forschung mitwirken und in sehr vielen Tätigkeitsfeldern zu Prävention und Bedrohungsmanagement beitragen kann. Wir würden uns freuen, wenn wir einige Leser*innen in diese Richtung motivieren könnten.


Auch wenn es keine einheitliche Abgrenzungsdefinition innerhalb der Forschungscommunity gibt: Wie können Extremismus und Terrorismus aus Ihrer Sicht voneinander abgegrenzt werden?


Die kurze (aber übermäßig vereinfachte) Antwort ist, dass Extremismus eine politische Geisteshaltung bezeichnet, während mit Terrorismus eine politische Gewalthandlung gemeint ist. Wenn man etwas näher hinschaut, verschwimmt diese Grenze aber: Extremismus ist ein Problem, weil er eben nicht nur in einigen Köpfen verbleibt, sondern sich auch in Handlungen niederschlägt – darunter auch Gewalthandlungen. Wenn Gewalthandlungen unrechtmäßig einem politischen Ziel dienen sollen, indem ein gewisses Publikum planvoll in Angst versetzt wird, spricht man gemeinhin von Terrorismus. Extremistische Gewalt weist in den allermeisten Fällen sehr viele dieser Kriterien auf: Sie ist illegal, sie ist politisch, sie ruft Angst hervor (auch bei anderen Menschen als den eigentlichen Opfern). Der springende Punkt ist, wie man das Wort „planvoll“ auslegt. Planmäßiges Handeln ist ein Kernelement der meisten Terrorismusdefinitionen; deswegen wird Terrorismus oft auch als eine (Kommunikations)Strategie bezeichnet. Extremistische Gewalt ist oft situativ: Prügelattacken zum Beispiel werden meist nicht von langer Hand geplant, sondern Opfer werden ganz spontan ausgewählt und die Taten nicht mit Bekennervideos oder- schreiben eingeordnet. Eine Meinung in der Forschungscommunity besagt deswegen, dass diese Taten das Kriterium „Planmäßigkeit“ nicht erfüllen und dementsprechend kein Terrorismus sind. Eine andere Meinung besagt aber, dass auch eine Reihe von ungeplanten Taten in ihrer Gesamtheit eine planmäßige Kampagne darstellen können – beispielsweise, wenn Rechtsextreme versuchen, Stadtviertel oder Orte in „No-Go-Areas“ zu verwandeln, indem regelmäßig Menschen anderer Hautfarbe, Herkunft und politischer Meinung angegriffen werden, ohne dass jede einzelne Tat besonders ausgefeilt wäre. Die Unterscheidung zwischen extremistischer und terroristischer Gewalt hängt also davon ab, wie man Planmäßigkeit versteht und ob sie in einem Cluster extremistischer Gewalttaten vorliegt oder nicht.


Bilden Attacken rechtsgerichteter Gruppierungen beziehungsweise Einzeltäter*innen nun die „fünfte Welle“ des Terrors? Und ist die Wellentheorie als Analyseinstrument noch gebräuchlich, wie kategorisiert die Forschung zum Beispiel neue Entwicklungen im Phänomenbereich?


Die Wellentheorie lässt sich unserer Meinung nach besser als ein griffiges Bild verstehen, mit dem sich die Geschichte des Terrorismus aussagekräftig zusammenfassen lässt, und weniger als eine tatsächliche Theorie mit Vorhersagekraft. Die Wellentheorie setzt terroristische Gewalt in Verbindung zur vorherrschenden Ideologie einer bestimmten historischen Phase: Anarchismus, Antikolonialismus, sozialrevolutionäre Bewegungen und Islamismus. Wenn man den historischen Verlauf aber zum Beispiel mit Anschlagsdaten hinterlegt, ergibt sich nicht unbedingt eine Wellenform: Staatenzerfall, Bürgerkriege und (oft dadurch entstehende oder begünstigte) außergewöhnlich gefährliche einzelne Terrorgruppen erklären die „Hochphasen“ von Terrorismus besser als die Popularität einer bestimmten Ideologie.

Auch wenn es also nicht wirklich ein Analyseinstrument ist, lassen sich aus der Wellentheorie wichtige Fragen ableiten: Welche Ideologie könnte in Zukunft die größte inspirierende Wirkung auf gewaltbereite Personen ausüben? Und wird es überhaupt wieder eine „dominante“ Ideologie geben? In der Vergangenheit, im Zeitalter der traditionellen Massenmedien, war es logisch, dass die am weitesten publizierte Ideologie die meisten Menschen erreicht und mithin die größte Wirkung entfaltet, auch hinsichtlich Terrorismus. Wir sind aber mittlerweile durch das Internet und die sozialen Medien in einem Zeitalter, in dem jeder Einzelne jederzeit Zugriff auf jede Ideologie, jeden Konflikt und jedes Narrativ hat. Möglicherweise schlägt sich das in einer Vielzahl global vernetzter „Ideologie-Blasen“ anstatt in einer dominanten Ideologie nieder.


Welche Handlungsempfehlungen sieht die Terrorismusforschung eigentlich als realistisch an, um Anschläge zu vereiteln oder ihre Nachwirkungen in den Griff zu bekommen?


Wichtig ist vor allem, dass es mehrere Ebenen der Terrorabwehr gibt: Prävention, Repression und Resilienz. In politischen Debatten wird manchmal versucht, eine Ebene gegen die andere „auszuspielen“ – das ist nicht zielführend. Jede Ebene ist unentbehrlich; es gilt ihr Zusammenspiel zu optimieren.

Prävention umfasst Maßnahmen, die verhindern, dass Menschen überhaupt Pläne für Terroranschläge fassen. Konkret bedeutet das meistens die Prävention oder den Abbau von extremistischer Radikalisierung, zum Beispiel mittels politischer Bildung, der Vermittlung von Konfliktlösungsstrategien oder Mentoring. Einerseits ist gute Extremismusprävention sehr zeit- und ressourcenintensiv, andererseits ist es natürlich stets die beste Option, wenn Terroranschläge überhaupt nicht versucht werden (ganz abgesehen davon, dass gute Prävention „Life Skills“ vermittelt, von denen gesellschaftliches Zusammenleben allgemein profitiert). Prävention kann aber kein Allheilmittel sein: Nicht jeder Präventionsversuch wird funktionieren, und nicht jede Person, die Extremismusprävention bräuchte, wird realistisch auch das Angebot dazu erhalten beziehungsweise annehmen.

Deswegen braucht es auch Instrumente und Maßnahmen, die verhindern, dass gemachte Anschlagspläne umgesetzt werden. Dies ist hauptsächlich die Aufgabe der Sicherheitsbehörden; die dahingehenden Bemühungen werden als „Repression“ zusammengefasst. Die zentrale Problematik ist hierbei, aus einer Vielzahl von auffälligen Personen diejenigen zu identifizieren, die tatsächlich Anschläge planen. Dafür sind effektive Informationsbeschaffung und -auswertung entscheidend, wobei den Behörden dabei aus gutem Grund gewisse gesetzliche Grenzen gesetzt sind. Ein wichtiger Schritt wäre schon mal, wenn alle der etlichen beteiligten Behörden ihre jeweiligen Informationen so teilen würden, dass ein aussagekräftiger, gemeinsamer Wissensstand entsteht. Auf die Repressionsebene kann der Staat durch die Gesetzgebung und die Behördenführung am direktesten und einfachsten Einfluss ausüben; es sollte kontinuierlich evaluiert werden, ob die Bedingungen der aktuellen Bedrohungslage noch angemessen sind.

Leider kann man selbst bei optimalen Bedingungen nicht davon ausgehen, dass jeder Anschlagsplan gestoppt werden kann. Resilienz ist wichtig, weil sie die Auswirkung von tatsächlich umgesetzten Anschlägen minimiert. Das kann schier unendliche Formen annehmen beziehungsweise sich aus fast unendlich vielen Aspekten zusammensetzen: von der Architektur und Materialbeschaffenheit der angegriffenen Gebäude über die Leistungsfähigkeit des Rettungsdienstes bis hin zur Art und Weise der Medienberichterstattung. Resilienz ist ein sehr komplexes, aber auch sehr relevantes Thema, das potenziell ganze Gesellschaften betrifft.


Gesellschaften sollten resilienter gegenüber Attacken aufgestellt werden. Aber wie kann das gelingen, wie gelingt in der Praxis die Wissensvermittlung von Forschungsergebnissen an die Entscheidungsträger*innen in Politik, Verwaltung, Medien und Sicherheitsbehörden – welche Erfahrungen haben Sie bisher gemacht?


Resilienz gibt es auf mehreren Ebenen; je größer beziehungsweise höher die Ebene, desto schwieriger ist es aber, Resilienz gezielt herbeizuführen. Andererseits hat Resilienz auf höheren Ebenen umso positivere allgemeine „Nebenwirkungen“ jenseits der Terrorismusabwehr. Wirtschaftsunternehmen können sich zum Beispiel mittels des sogenannten Business Continuity Management gegen Störungen ihrer Produktionsprozesse absichern – Störungen durch Terrorismus, genauso aber auch beispielsweise durch Sabotage oder Logistikunterbrechungen. Daran besteht seit den Lieferkettenproblemen während Covid-19, spätestens seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine, ein sehr großes Interesse – entsprechend viel Aufmerksamkeit findet Forschung, die sich damit beschäftigt. Nicht umsonst wird auch im Handbuch darauf eingegangen. Resilienzfördernde Maßnahmen lassen sich außerdem in Unternehmen aufgrund der klaren Hierarchien recht gut implementieren. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene ist das komplizierter: Hier geht es darum, Polarisierung zu vermeiden, Vertrauen ineinander und in die Handlungsfähigkeit des Staates zu schaffen und gleichzeitig auch sinnvolle Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung zu forcieren. Das sind sicherlich erstrebenswerte Ziele, allerdings gibt es in einer freien Gesellschaft kein Pendant zum CEO eines Unternehmens, der entsprechende Maßnahmen einfach anordnen kann – ganz abgesehen davon, dass wir hier nicht zuletzt über die Veränderung von Geisteshaltungen reden, die sich natürlich nicht einfach anordnen lässt. Realistisch sind an der Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Resilienz tausende zivilgesellschaftliche, politische und administrative Akteure beteiligt – eine zentrale Koordination oder Steuerung ist in einer freien Gesellschaft weder möglich noch erstrebenswert. Es sollte aber eine Einigkeit über die generellen Ziele bestehen, und es sollten die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer zugänglichen und verständlichen Form zur Verfügung gestellt werden, damit die jeweiligen Akteure daraus Nutzen für ihre Arbeit ziehen können. Auch dazu wollen wir mit unseren Publikationen einen Beitrag leisten.


Wie lässt sich die Bevölkerung noch mehr sensibilisieren, um die Früherkennung/Prävention weiter zu stärken?


Dazu bedarf es in erster Linie Aufklärung und Informationen. Hier spielt unter anderem der Bereich der Primärprävention eine wichtige Rolle. Primärprävention zielt darauf ab, mit pädagogischen Angeboten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (die bislang keine Problemausprägung aufweisen) der Entwicklung von Extremismus und Radikalisierung vorzubeugen. Dazu gehören unter anderem Bildungsangebote, Programme und Kampagnen, die zum Beispiel soziale Kompetenzen und/oder sportliche Fähigkeiten fördern, demokratische Werte vermitteln oder gezielt über politischen und/oder religiösen Extremismus aufklären. Damit soll die Resilienz dieser Personengruppen gesteigert und somit eine mögliche Radikalisierung von vornherein verhindert werden. Zudem kann Aufklärung über und das Bewusstsein von psychische(r) Gesundheit (Mental Health Awareness) einen positiven Einfluss auf Radikalisierungsprävention haben. Auch Medienarbeit kann eine wichtige Rolle bei der Sensibilisierung der Bevölkerung spielen. So können Informationen zu Extremismus, Radikalisierung und Terrorismus beispielsweise in Form von Filmen, Serien und Dokumentationen, auf Online-Plattformen oder in den Print-Medien aufgearbeitet und für die Gesellschaft zugänglicher gemacht werden.


Neben dem Handbuchprojekt, dem regelmäßig erscheinenden Terrorismusjahrbuch und den interaktiven Terrorismuskarten widmet sich Ihre Abteilung ja auch dem Kooperationsprojekt „ERAME“ – worum geht es da genau?


ERAME“ (Erkennung von Radikalisierungszeichen in den sozialen Medien) ist ein Forschungsprojekt, das das ISPK zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme und dem Centre for Security and Society an der Universität Freiburg durchführt und das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ gefördert wird. ERAME soll einen Baustein für die Lösung eines Problems liefern, das weiter oben angesprochen wurde: Wie können Sicherheitsbehörden aus der Vielzahl von Personen, die auf die eine oder andere Art mit extremistischem Gedankengut assoziiert sind, diejenigen identifizieren, von denen tatsächlich Gefahr ausgeht? Diese Identifikation muss man sich als einen Prozess mit mehreren „Filter-Schritten“ vorstellen, wobei bei jedem Schritt irrelevante Personen entfernt werden. Somit entsteht eine metaphorische Pyramide, mit den wenigsten, gefährlichsten Fällen an der Spitze. Die Ressourcen der Sicherheitsbehörden bilden eine umgekehrte Pyramide: Die meiste Arbeit kann und soll auf die gefährlichsten Fälle verwendet werden.

ERAME setzt an der untersten Stufe der Pyramide an, bei der gänzlich unauffällige Personen von denen getrennt werden sollen, die einen genaueren zweiten Blick rechtfertigen – und zwar idealerweise mit so wenig Ressourcen wie möglich. Dazu nutzen wir Künstliche Intelligenz (KI), um Radikalisierungsindikatoren in sozialen Medien zu finden. Soziale Medien sind für die Früherkennung von Radikalisierung sehr relevant, weil Menschen dort freiwillig und öffentlich Einblick in ihre Gedanken und Einstellungen geben. Trotzdem müssen sich die Behörden an gesetzliche Vorgaben halten – sie dürfen zum Beispiel nicht unterschiedslos ohne Vorauswahl alle Inhalte aus sozialen Medien „absaugen“. ERAME entwickelt den Demonstrator eines KI-Instruments, das 1) technisch nutzerfreundlich funktioniert, 2) Radikalisierungsindikatoren automatisiert und zuverlässig erkennt und 3) rechtskonform einsetzbar ist. Dazu kombinieren wir Inhalts-, Sentiment- und Metadaten-Analysen in mehr als zwölf verschiedenen Kategorien. Der Demonstrator beschränkt sich dabei momentan noch auf nur eine Plattform (YouTube) und nur einen Phänomenbereich (den islamistischen Extremismus); die Ausweitung auf andere Plattformen und Phänomenbereiche ist aber in Planung. Solch ein teilautomatisiertes Instrument kann immer nur ein Teil des Analyseprozesses sein. Es kann aber menschliche Auswerter unterstützen, indem es die riesigen Datenmengen in sozialen Medien auch mit überschaubarem Personalansatz handhabbar macht.




Dieses Interview mit dem pw-portal entstand im Rahmen des Jubiläumszeitraums der Stiftung Wissenschaft und Demokratie. Die Stiftung ist seit 30 Jahren tätig und verfolgt mit ihren Einrichtungen und Förderprojekten das Ziel, insbesondere die Politikwissenschaft bei der Lösung praktischer und normativer Probleme der Demokratie zu unterstützen.               

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Bibliografische Angaben

Liane Rothenberger, Joachim Krause, Jannis Jost, Kira Frankenthal (Hrsg.): Terrorismusforschung. Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis

terrorismusforschung

ISPK-Studien zur Terrorismusforschung (Band 3)

Baden-Baden, Nomos 2022

 

 

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Im November 2011 wurde der Mordserie des NSU durch die Selbstenttarnung der Terrorist*innen ein Ende gesetzt. Eine umfangreiche wissenschaftliche und journalistische Publikationstätigkeit zu den Hintergründen des NSU, zur umstrittenen Rolle der Sicherheitskräfte und zu ihren behördlichen und zivilgesellschaftlichen Konsequenzen setzte bereits im darauffolgenden Jahr ein. Zahlreiche der Publikationen zum Thema sind kurz nach ihrem Erscheinen auf dem Portal für Politikwissenschaft besprochen worden. Die nachfolgende Bibliografie gibt einen Überblick über unsere Rezensionen zum Thema. Die Titel sind chronologisch geordnet.

 

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Externe Veröffentlichungen

Annika Leister, Jannis Jost / 07.12.2022

t-online. Nachrichten für Deutschland

Sibylle Salewski, Andreas Voßkuhle / 27.10.2022

Deutschlandfunk Nova

Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Bonn / 31.08.2022

Aus Politik und Zeitgeschichte

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