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Michael Wolf: Krieg, Trauma, Politik. Gewalt und Generation: Die unbewusste Dynamik

19.10.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Frankfurt a. M., Brandes & Apsel 2017

Die Themen Krieg und Terrorismus sind aus den täglichen Nachrichten kaum noch wegzudenken. Michael Wolf legt zu diesem Komplex nun nicht nur einfach ein weiteres Buch vor, sondern ergänzt den Blick darauf um eine dringend benötigte Perspektive: Welche langfristigen und generationenübergreifenden Auswirkungen haben diese Gewalterfahrungen – ob aus erster Hand oder medial vermittelt – auf die Politik und die Psyche der Menschen? Diese Fragen werden aus psychoanalytischer Sicht betrachtet und dabei die psychologischen Folgen mit Blick auf ganze Bevölkerungen in den Blick genommen. Im Sinne der Intersubjektivität ist es erfreulich, dass sich der Autor zunächst selbst als Nachkriegskind verortet und seine zunehmende Beschäftigung mit dem Thema ab dem Zweiten Golfkrieg in den 1990er-Jahren beschreibt. Danach widmet er sich der Betrachtung von Kriegen und deren Folgen in Gestalt von kollektiven und individuellen Traumata sowie der daraus erwachsenden Rolle politischer Führer und deren Charaktereigenschaften, die er am Beispiel Silvio Berlusconis exemplifiziert.

Dabei nimmt Wolf explizit die von Herfried Münkler als „neue Kriege“ bezeichneten Gewaltphänomene in den Blick und erkennt – auch im islamistischen Terrorismus – die Rolle der Religion lediglich „als Legitimationsideologie und nicht als primäre Antriebskraft kriegerisch ausgetragener Konflikte [..,] auch wenn den Akteuren das bewusst anders erscheint" (34). Krieg als solches stellt für ihn eine „gewalttätige Pararealität [..,] eine Realität eigener Art, die zum Überleben und Bewältigen eine bestimmte Haltung, einen besonderen Modus der Triebverarbeitung und Handlungsbereitschaft verlangt“ dar, die einem „normalen“ menschlichen Handlungsmuster widerspreche. Hier könnte man bereits einwerfen, dass seine Grundannahme eines menschlichen Verhaltens, wonach der Schutz des eigenen sowie des Lebens anderer Menschen im Mittelpunkt steht, empirisch nur schwer haltbar ist. Ausgehend von dieser Annahme, geht er indes den nächsten Schritt und erklärt, dass in den vergangenen Jahrzehnte große Anteile der Weltbevölkerung „anormale“ (49) Kriegserfahrungen gemacht hätten und infolge dessen bei einem „erheblichen Teil der (männlichen) Bevölkerung solche paranormalen Persönlichkeitsstrukturen dissoziiert latent vorhanden“ (56) seien. Wolf überträgt hier psychoanalytische Thesen kurzerhand auf ganze Kollektive („die Deutschen“ oder „Kulturen“), aber es scheint fraglich, ob moderne arbeitsteilige Gesellschaften damit korrekt gefasst werden können. Auch seine Schlüsse sind bisweilen zu schnell gezogen. So ist es historisch verkürzend, die nationalsozialistischen Bewegungen auf die Kriegstraumatisierungen des Ersten Weltkrieges zu reduzieren.

Auch ist für ihn Terrorismus die „neue Form der Kriegführung“. „Deshalb haben der amerikanische Präsident Bush im Jahre 2001 und der französische Präsident Hollande im Jahr 2015 davon gesprochen, ihre Länder seien jetzt im Krieg.“ Politische Rhetorik ist hier allerdings kein ausreichender Indikator für diesen Befund, aufgrund dessen er Deutschland vorwirft, eine „echte Beteiligung am Krieg gegen den IS [...] vermieden“ (210) zu haben. „Es scheint jedenfalls, dass in Deutschland nach wie vor eine Vielzahl von kollektiven Reaktionsbildungen wirksam ist, die in bestimmten Themen Kontroversen darüber sehr schwierig machen, weil die Ungeheuer der Vergangenheit sofort wieder drohen, geweckt zu werden. Das Feld ist vermint.“ (221)

Leserinnen und Lesern, die in psychotherapeutischer Praxis, in der Lehre oder anderweitig pädagogisch oder seelsorgerisch tätig und am Themenkomplex interessiert sind, kann das Buch empfohlen werden. Ohne die entsprechende Vorbildung und Leseerfahrung sind die bisweilen langen und verschachtelten Sätze, die zudem mit reichlich Fachterminologie gespickt sind, teilweise schwer verständlich.

 

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Johanna Fleischhauer

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Der 11. September. Psychoanalytische, psychosoziale und psychohistorische Analysen von Terror und Trauma

Gießen: Psychosozial-Verlag 2003 (Reihe Psyche und Gesellschaft); 414 S.; brosch., 24,90 €; ISBN 3-89806-247-3
Terrorismus hat nicht nur mittel- und unmittelbare Folgen für die Politik, sondern verursacht auf der individuellen Ebene zunächst einmal Angst und Schrecken. Obwohl diese psychischen Auswirkungen zum Kern des terroristischen Kalküls gehören, werden ihnen nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen gewidmet. Die Herausgeber machen einen Anfang, indem sie verschiedene Ansätze in Form von Aufsätzen vorstellen, die aus unterschiedlichen Vortrags- und Lehrkontexten stammen. Dem Leser bleibt dann übe...weiterlesen

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