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Hendrik Niether

Leipziger Juden und die DDR. Die Existenzerfahrung im Kalten Krieg

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 21); 348 S.; 44,99 €; ISBN 978-3-525-36997-5
Geschichtswiss. Diss. Jena; Begutachtung: N. Frei. – Die Ausgangsbedingungen wie die weitere politische Entwicklung waren nicht eben dazu angetan, nach 1945 in Leipzig eine jüdische Gemeinde fortzuführen – von den 12.000 Mitgliedern vor 1933 hatten viele den Holocaust nicht überlebt oder waren geflohen, die Zahl der Gemeindemitglieder sank bis 1988, so erläutert Hendrik Niether, auf 30 Mitglieder. Und überhaupt forderte die „atheistische Ausrichtung des Kommunismus […] die endgültige Assimilation der Juden“ (14), ihrer Gemeinschaft wurden deshalb in der DDR enge Grenzen gesetzt, sie wurden stigmatisiert und in den 1950er‑Jahren sogar verfolgt, auch verweigerte das Regime jegliche Entschädigungen an Holocaust‑Überlebende und stellte sich im Nahost‑Konflikt auf die Seite der Palästinenser. Erst in der Endphase der DDR kam es zu einer etwas gelockerten Haltung gegenüber dem Judentum. Da es dem SED‑Regime insgesamt nicht gelang, jegliche Selbstbehauptung zu unterdrücken, kann Niether in seiner umfassenden und dennoch durch die Konzentration auf eine Stadt kleinteiligen Studie ein präzises Bild einer lebendigen Gemeinde zeichnen, die auch geprägt war durch innere Vielfalt; ihre Mitglieder dachten liberal, orthodox, zionistisch oder sozialistisch. In die Darstellung der chronologischen Entwicklung dieser Gemeinde in Leipzig – der einzigen Stadt neben Ost‑Berlin, in der regelmäßig Schabbatgottesdienste stattfanden – fließen dabei zwei wichtige Aspekte ein: Niether berücksichtigt die „Aushandlungsprozesse von Zugehörigkeit“ […], die sich außerhalb des religiösen Kontextes vollzogen, mithin „Erfahrungen von DDR‑Bürgern“ (12). Gesondert zu erwähnen sind hier die kommunistischen Juden. Und er arbeitet die internationale Kommunikation „zwischen den in der DDR lebenden und den ehemaligen Leipziger Juden […] unter den Voraussetzungen des Kalten Krieges“ (11) heraus. Erklärte Absicht Niethers ist, einseitige Deutungen mit Blick auf regimetreue Juden mit dem Vorwurf, sie hätten unkritisch das System mitgetragen, oder umgekehrt die Klassifizierung der DDR als antisemitischen Staat aufzubrechen. „Vielmehr muss es darum gehen, die Komplexität des Kalten Krieges und die bis heute vorhandenen ideologischen Vorurteile zu historisieren“ (22). Dass diese Vorgehensweise den Blick auf die Vergangenheit öffnet, zeigt sich schließlich durch Niethers Hinweis darauf, dass für „das nationale Selbstverständnis und den Aufbau beider Staaten […] die Erinnerung an die Shoah ein kaum integrierbarer Aspekt“ (318) war. Trotz aller leidvollen Erfahrungen aber ist jüdisches Leben – heute auch wieder in Leipzig, wie im Schlussteil nachzulesen ist – ein fester Teil der deutschen Gesellschaft.
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Rubrizierung: 2.314 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Hendrik Niether: Leipziger Juden und die DDR. Göttingen u. a.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38823-leipziger-juden-und-die-ddr_47200, veröffentlicht am 03.09.2015. Buch-Nr.: 47200 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken