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Hiltrud Naßmacher

Mehr Europa – weniger Demokratie?

München: Oldenbourg Verlag 2013; IX, 155 S.; brosch., 19,80 €; ISBN 978-3-486-72459-2
„Wie viel Apathie der Bürger kann eine Demokratie ertragen, ohne gefährdet zu sein?“ (2) Hiltrud Naßmacher wendet sich gegen die – aus ihrer Sicht – politikwissenschaftliche Mainstream‑Meinung, dass mit der EU ein neuartiges System sui generis entstehe, an das auch neue (laxere) Maßstäbe hinsichtlich der demokratischen Konstitution gestellt werden dürften. Stattdessen formuliert sie die These, dass „Reformen sich einerseits an den gewachsenen Strukturen der Mitgliedstaaten orientieren müssen, um Akzeptanz sicherzustellen, und andererseits Erkenntnisse verwerten sollten, die durch langfristige empirisch gesättigte Erfahrungen in Demokratisierungsprozessen gewonnen wurden“ (6). In dieser Weise erfolgt zunächst eine „kritische“ (5) Bestandsaufnahme der EU‑Entwicklung, in der auch allgemeine demokratietheoretische Grundlagen sowie Charakteristika der einzelstaatlichen Institutionenstruktur problematisiert werden. Auch mit dem Rückgriff auf andere gängige politikwissenschaftliche Theoreme macht Naßmacher deutlich, dass sie ihre Beurteilungskategorien aus dem Kontext tradierter Staatstheorien bezieht. Dabei arbeitet sie leider immer wieder mit (normativen) Behauptungen ohne Quellenverweise, die sich – gerade Studierenden – nicht ohne Weiteres erschließen dürften. Beispielsweise stellt sie fest, dass die „Bemühungen zur Integration Europas […] nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf die Schaffung einer Demokratie westlicher Prägung“ (29) gerichtet gewesen seien. An anderer Stelle kommt Naßmachers klar konservative Position heraus, wenn sie – wenig wissenschaftlich – behauptet, dass eine Stabilisierung der Zustimmungswerte zur EU nur durch eine „erfolgreiche Grundierung“ (33) gemeinsamer Werte möglich wäre. Da sich „das christliche Abendland allerdings Einflüssen“ ausgesetzt sehe, die durch „abnehmende Kirchenbindung“ und die „multikulturelle Gesellschaft“ (34) geprägt seien, sei dies nur schwer möglich. Grundsätzlich verdienstvoll ist die anschließende Analyse von sieben Politikfeldern der EU unter Demokratie‑Gesichtspunkten. Allerdings wird die Untersuchung nicht immer ganz systematisch vorgenommen. Zudem stützt die Autorin sich oft nur auf Medienberichte. Diese dünne Quellenlage und die stark deutsche Perspektive lassen Naßmacher am Ende auch nicht wirklich zu innovativen Erkenntnissen kommen: eine Europäisierung der Parteien, die Aufwertung des Europäischen Parlaments sowie eine europäisierte Medienberichterstattung gehören seit Jahren zum Wunschkonzert einer Integrationsforschung, die derzeit kaum in der Lage ist, die grundstürzenden institutionellen Veränderungen im Zuge der Finanz‑ und Wirtschaftskrise in der EU einzuordnen. Denn mit den Kategorien tradierter Staatlichkeit lassen sich diese nicht mehr wirklich erklären.
Henrik Scheller (HS)
Dr. phil., Dipl.-Politologe, wiss. Mitarbeiter, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl Politik und Regieren in Deutschland und Europa, Universität Potsdam.
Rubrizierung: 3.1 | 3.2 | 3.4 | 3.5 | 3.7 Empfohlene Zitierweise: Henrik Scheller, Rezension zu: Hiltrud Naßmacher: Mehr Europa – weniger Demokratie? München: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36050-mehr-europa--weniger-demokratie_43491, veröffentlicht am 08.08.2013. Buch-Nr.: 43491 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken