Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat
04.08.2023Putin übt Vergeltung für den Zerfall der Sowjetunion, konstatiert Michael Thumann. Der erfahrene Auslandskorrespondent diskutiert vorliegend die Etappen der Radikalisierung Vladimir Putins sowie Phänomene wie Gelegenheitsnationalismus oder die Frage nach einem gegenwärtigen Faschismus in Russland. Dabei seziert Thumann auch die Fehlannahmen, welche in Deutschland und Westeuropa zu lange über Russland wirkten, wie unser Rezensent Vincent Wolff hervorhebt. In der Gesamtschau gelinge damit eine spannende Ergänzung zu den aktuellen Debatten über das Regime, dessen Interessen und russische Außenpolitik. (tt)
Eine Rezension von Vincent Wolff
„(Der Krieg) ist das größte Beben seit dem Zweiten Weltkrieg… Schuld daran sind ein Mann, sein Regime und seine Unterstützer“ (8), fasst Michael Thumann seine Kernthese zusammen. Der Autor zeigt auf, wie Wladimir Putins Radikalisierung zum russischen Angriffskrieg führte, quasi als logische Konsequenz. Thumann liefert dazu ein spannendes Werk. Er verbindet politisches Detailwissen mit persönlichen Eindrücken und Berichten aus Russland und schafft somit ein bestechendes Zeitdokument. Als langjähriger Auslandskorrespondent in Moskau verfügt der Verfasser damit über Einblicke und Kenntnisse, die die gegenwärtige Debatte substanziell bereichern.
Der Kerngedanke von Thumann: Putin nehme Rache für den Zerfall der Sowjetunion. Dabei reagiere Russland nicht auf irgendwelche anderen Länder, sondern entwickle sich aus sich selbst heraus. Putin sei mit seinem Nationalismus nicht allein, sondern verkörpere eine Spielart des radikalen neuen Nationalismus, der viele Länder beherrsche. Das sei besonders gefährlich: „Es gibt keine verträgliche Dosis von autoritärem Nationalismus“ (13). Die autoritäre Gewalt im Inneren werde sich zwangsläufig nach außen kehren, wenn dies nicht rechtzeitig verhindert werde. Dieser Nationalismus des 21. Jahrhunderts sei opportunistischer Art, so Thumann. Der Autor vergleicht Putin, Erdogan und Orban, früher Wirtschaftsliberale, dann Wohlstandsverteiler, dann „Gelegenheitsnationalisten, die sich der Ideologie zwecks Förderung der eigenen Karriere bemächtigen“ (94 f.).
Ein Schlüsselelement im Aufstieg Putins sei die Rebellion von 1991 gewesen. In gewisser Weise seien die damaligen Putschisten die Vorgänger Putins – und die heutigen Gewinner des Regimes. Dabei habe der Putinismus mehrere Phasen durch laufen, erst eine hybride Phase in den 2000er-Jahren, gefolgt von einer autoritären Phase ab 2012 und einer Phase der Zerstörung der Zivilgesellschaft ab 2021. „Das System Putin entstand zu Beginn der 2000er-Jahre als hybride Stabilokratie in der Grauzone zwischen Demokratie und Diktatur“ (145). Dabei dürfe man das militärische Element nie vergessen: Bereits Putins erster Tschetschenien-Krieg habe die Handschrift des heutigen Krieges getragen. Alle darauffolgenden Kriege seien ähnlich abgelaufen, ob in Aleppo, Mariupol oder in Butscha. Dabei sei Tschetschenien vor allem „Testgrund und Modell für Russland“ (90) gewesen. Putin habe Russland „tschetschenisiert“ (91).
Der Autor ärgert sich über die Nachlässigkeit, mit der der Westen Putin hofiert habe, „westliche Gutgläubigkeit, Kumpanei und ein riesiger Vertrauensvorschuss“ (9) hätten Putin erst groß gemacht. Insbesondere hierzulande sei das zu beobachten gewesen: „Die Deutschen redeten sich den Mann schön“ (9). Dabei seien es zwei Irrtürmer gewesen, die ihm besonders geholfen hätten, „die Annahme, er sei eigentlich ein guter Mann, nur leicht zu beleidigen. Und die Befürchtung, dass alles viel schlimmer werden werde in Russland, wenn er einmal ginge“ (10). Dabei geht es Thumann nicht nur um Gerhard Schröder, „ein besonders krasses Beispiel deutscher Putinophilie“ (18). Der Autor erwähnt namentlich den ehemaligen Moskauer-Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie zahlreiche deutsche Politiker*innen und Manager*innen, die „wollten, dass es mit Putin klappe, koste es, was es wolle“ (19). Dahinter hätten drei Kern-Überzeugungen gestanden: eine fundamentale Amerika-Kritik, eine „Echtheit“ (19), die man in den Russ*innen als wirksames Stereotyp sehe, sowie einen Markt und eine Rohstoffbasis. In gewisser Weise sei der Vertrag von Rapallo vor hundert Jahren ein Vorbote dieser Tradition. Auch dies sei, wie heute, „eine Etappe in der langen deutsch-russischen Zusammenarbeit zulasten Dritter“ (25) gewesen. Das ziehe sich von Rapallo bis zur Nordstream-Pipeline heute. Für letztere macht Thumann vor allem Sigmar Gabriel verantwortlich, den „von Schröder gestützte[n] Exekutor von Rohrpallo“ (29).
Thumann macht klar: Der Krieg gegen die Ukraine richte sich auch gegen den Westen, Putin wolle die liberale Demokratie insgesamt beerdigen. Russland werde unter Putin zur Bedrohung für ganz Europa und die Welt. Das sei alles regelmäßiger Teil der Staatspropaganda in Russland. Dort werde die aggressive Außenpolitik explizit vorbereitet: „Die Zerstörung der ukrainischen Nation, der Kultur, des Staates gehörte zur täglichen Propagandanahrung in Russland“ (181). Das sei auch ein Zeichen einer weiterführenden Radikalisierung des Regimes. Thumann ist sich sicher: „Es ist das bedrohlichste Regime der Welt“ (262).
Mit Putin verabschiede sich Russland auch konsequent aus Europa. Das sei ein historisches Novum, selbst die Zaren Peter I., Alexander I. und Nikolaus II. hätten stets europäische Verbündete gehabt und Kontakte nach Europa gesucht. So sehr wie Putin hätte noch keine russische Führungspersönlichkeit Russland von Europa entfernt. Damit zerstöre Putin aber auch alles, so der Verfasser, der Präsident wirke wie „ein dem Wahn verfallener Unternehmer […] [der] am Ende seiner Karriere ins Casino geht, um seine Altersversorgung sowie das Erbe seiner Kinder zu verzocken“ (237). Damit gehe Putin nicht glorreich in die russische Geschichte ein, im Gegenteil: „Putins Erbe dürften vor allem Abbruch und Asche sein“ (263). Sein persönlicher Niedergang habe mit dem Krieg begonnen.
Thumann erkennt in der russischen Diktatur keinen Faschismus, es würden unter anderem offener Terror und Antisemitismus fehlen. Hier vermischt der Verfasser nun leider Faschismus und Nationalsozialismus, ersterer kann aufgrund seiner begrifflichen Trennschärfe durchaus zur Beschreibung des russischen Systems dienen. Zudem unterschätzt Thumann die Virulenz des Antiamerikanismus, die Putins Popularität in anderen Ländern erklärt. Mehr als nur radikale Amerika-Kritik, ist der Antiamerikanismus als umgreifende Ideologie besonders wirkmächtig. Dies würde Thumanns Thesen noch stärker untermauern.
Insgesamt aber ist Thumann eine spannende Ergänzung der Debatte gelungen. Insbesondere sein Fokus auf den Gelegenheitsnationalismus und den Rache-Gedanken als zentralem Element der Putin‘schen Ideologie vergrößern das Verständnis des russischen Systems und seiner Beweggründe.