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Anna Becker

Mythos Stalin. Stalinismus und staatliche Geschichtspolitik im postsowjetischen Russland der Ära Putin

Berlin-Brandenburg: be.bra wissenschaft verlag GmbH 2016 (Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert 2); 152 S.; pb., 19,95 €; ISBN 978-3-95410-036-1
Mit der Formulierung „Stolz statt Wahrheit“ (128) bringt Anna Becker die russische Geschichtspolitik der vergangenen fünfzehn Jahre auf den Punkt. Damit meint sie, dass der russische Staat mit Präsident Wladimir Putin an seiner Spitze als geschichtspolitischer Akteur bewusst den Mythos um den Diktator Josef Stalin politisch nutzt. Nur seine Errungenschaften (Industrialisierung, Sieg über Hitler‑Deutschland und Aufstieg der Sowjetunion zur Supermacht) werden hervorgehoben. Diese staatliche Geschichtsinterpretation zeigt Wirkung: Stalin gilt „in breiten Bevölkerungskreisen des heutigen Russlands als starke und weise Führungspersönlichkeit“ (7). In diesem Zusammenhang lautet die These der Autorin: „Ohne den Diktator zu rehabilitieren zu wollen, werden ausgewählte Episoden der Stalin‑Zeit instrumentalisiert, um den gegenwärtigen autoritären politischen Kurs zu legitimieren und der heterogenen russländischen Gesellschaft ein Konzept einer neuen kollektiven, staatsnationalen Identität anzubieten.“ (9) An der Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen hat die russische Regierung demnach kein Interesse. Um die offizielle Geschichtspolitik seit dem Machtantritt von Wladimir Putin im Jahr 2000 bis 2014 zu analysieren, greift Becker ausgewählte Beispiele auf. So untersucht sie aktuelle russische Geschichtslehrbücher und kommt zu dem Schluss, dass deren Autoren zu einer „gefährlichen Bagatellisierung stalinistischer Verbrechen“ (55) neigen. Die Autorin betrachtet auch die Arbeit staatlich geförderter Geschichtsforschung – den Historikern dieser regierungsnahen Stiftungen und Organisationen geht es weniger um die Opfer des Stalinismus als vielmehr um die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die russische Regierung die Deutungshoheit über die Geschichte beansprucht, ist die von 2009 bis 2012 existierende „Falsifizierungskommission“ (86). Sie wurde vom damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew ins Leben gerufen und sollte „im Namen des Staates die Interpretation bestimmter historischer Ereignisse begutachten und als 'richtig' oder 'falsch' beurteilen“ (93). In den vergangenen Jahren begann die russische Staatsführung zwar, sich von Stalin zu distanzieren. Allerdings bleibt nach Ansicht der Autorin die Grundtendenz bestehen: Präsident Putin instrumentalisiert den Mythos Stalin für seine politischen Ziele. Für ihn dient der Sieg über Hitler‑Deutschland „als Gründungsmythos schlechthin für das neue Russland“ (128).
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Rubrizierung: 2.622.222.232.263 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Anna Becker: Mythos Stalin. Berlin-Brandenburg: 2016, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39527-mythos-stalin_47082, veröffentlicht am 17.03.2016. Buch-Nr.: 47082 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken