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Regina Fritz

Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944

Göttingen: Wallstein Verlag 2012 (Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert 7); 364 S.; brosch., 34,90 €; ISBN 978-3-8353-1058-2
Geschichtswiss. Diss. Wien; Begutachtung: G. Botz, C. Sachse. – Im Kontext der interdisziplinären Debatten um die Erinnerung an den Holocaust schildert Fritz das ungarische Beispiel mit Schwerpunkt auf den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Begriff selbst tauchte dabei erst in den 1980er-Jahren im politischen Sprachgebrauch auf, zuvor war meist unspezifisch von „Kriegsverbrechen“ (9) die Rede. Die Autorin konstatiert für Ungarn die besondere Schwierigkeit einer Auseinandersetzung mit gleich „drei verschiedenen rechtsdiktatorischen ‚Vergangenheiten‘“ (13): der Horthy-Regierung, dem Pfeilkreuzler-Regime und der NS-Besatzungsherrschaft. Die Untersuchungsgrundlage bilden staatliche Dokumente, Interviews, Ego-Dokumente und die Forschungsliteratur, wobei viele ungarische Beiträge hier erstmals detailliert in deutscher Sprache ausgewertet werden: Zwar gab es direkt nach Kriegsende zahlreiche Abrechnungs- und Vergeltungsmaßnahmen. Der Großteil der Bevölkerung wurde jedoch von einer Mitschuld an der Ermordung der ungarischen Juden freigesprochen. Stattdessen etablierte sich ein Widerstandsmythos. Die beginnende wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit Krieg und Judenmord wurde zudem durch die Etablierung der kommunistischen Herrschaft unterbrochen (für ähnliche Prozesse in den anderen staatssozialistischen Regimen Ostmitteleuropas siehe etwa Buch-Nr. 39193). Eine Debatte über das historische Erbe erfolgte nur im internen Kreis angesichts tagespolitischer Herausforderungen. Erst die 1980er-Jahre sahen eine zunehmende öffentliche Thematisierung. Doch auch „[n]ach dem Systemwechsel blieb die offene Konfrontation mit dem Holocaust und der nationalen Verantwortung […] zunächst aus“ (320). Bis heute ist die Holocaust-Erinnerung stark von nationalen Fragestellungen und parteipolitischen Zuspitzungen geprägt. Deutlich wird dies etwa an entsprechenden Debatten im Vorfeld des EU-Beitritts und den Diskussionen um Ausstellungsprojekte wie das „Haus des Terrors“ in Budapest.
Martin Munke (MUN)
M. A., Europawissenschaftler (Historiker), wiss. Hilfskraft, Institut für Europäische Studien / Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 2.612.232.254.1 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Regina Fritz: Nach Krieg und Judenmord. Göttingen: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35618-nach-krieg-und-judenmord_42983, veröffentlicht am 13.12.2012. Buch-Nr.: 42983 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken