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Infogruppe Bankrott (Hrsg.)

Occupy Anarchy! Libertäre Interventionen in eine neue Bewegung

Münster: edition assemblage 2012 (Systemfehler 3); 152 S.; 9,80 €; ISBN 978-3-942885-26-3
Getragen vom Gefühl einer nicht hinreichenden theoretischen Durchdringung der Occupy‑Proteste in Deutschland – ob das Gefühl berechtigt ist oder nicht, sei dahingestellt – versuchen die Herausgeber des Bandes eine nachholende Theoretisierung der Rückeroberungen des öffentlichen Raumes. Diese nachholende Theoretisierung, die sie in ihrer wenig überzeugenden, weil selbst um Deutungsmacht bemühten Einleitung aus einer anarchistischen Perspektive zu rahmen versuchen, lässt Beobachter der Occupy‑Bewegung aus den USA zu Wort kommen. So entsteht – das ist die Stärke des Bandes – ein weit gefächerter Einblick in das Selbstverständnis und den Selbstentwurf einer Bewegung, die 2011 als Initialzündung einer Redemokratisierung westlicher Gesellschaften gegolten hatte und die heute (2013) öffentlich kaum mehr stattfindet. David Graeber, Autor von „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, macht in seinem Beitrag deutlich, in welchem Maße die Occupy‑Bewegung auf anarchistischen Prinzipien gründet. Neben der Infragestellung der bestehenden Herrschafts‑ und Rechtsverhältnisse kommen diese Prinzipien laut Graeber in einer „vorausschauenden Politik“ (31) und der Verweigerung gegenüber internen Hierarchien und der basisdemokratischen Ausrichtung von Occupy zum Ausdruck. Während Graeber selbst nicht so recht deutlich zu machen vermag, was genau er unter dem Begriff „vorausschauende Politik“ versteht, erfährt sein – offenbar auch von anderen Aktivisten geteiltes – Bemühen um eine basisdemokratische Politikgestaltung im Beitrag von Mike Davis eine deutliche Abfuhr. Aus der Praxis der 68er‑Bewegung habe man gelernt, so Davis, dass eine reine Basisdemokratie mitsamt einem durchgängigen Konsensgebot für die Durchsetzung politischer Inhalte nicht hinreichend praktikabel sei: „Konsensuelle und partizipatorische Demokratie sind nicht dasselbe. [...] Für eine große Protestbewegung jedoch ist ein gewisses Maß an repräsentativer Demokratie unverzichtbar, will man eine möglichst breite Beteiligung.“ (64) Neben dieser organisatorischen Debatte über das richtige Verhältnis von direkter und repräsentativer Demokratie in der Bewegung verweist Judith Butler in ihrem Beitrag über die gegenwärtige neoliberale Hegemonie noch einmal auf den Auslöser, der Occupy überhaupt erst provoziert hat. Kursorisch, aber dennoch treffend, rekonstruiert sie einen paradoxen diskursiven Prozess der Ökonomisierung, in dem die „neoliberale Moral eine Unabhängigkeit als Idee fordert, während sie gleichzeitig daran arbeitet, deren Möglichkeit auf einer ökonomischen Ebene zu zerstören“. Weil er dieses Spannungsfeld von Prekarisierung im Sinne von „Entbehrlichkeit“ (82) und dem demokratisch organisierten Widerstand gegen die Entsorgung des Demos aufzeigt, ist der Band eine wertvolle, eine inspirierende Lektüre.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.64 | 2.22 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Infogruppe Bankrott (Hrsg.): Occupy Anarchy! Münster: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35541-occupy-anarchy_42874, veröffentlicht am 21.02.2013. Buch-Nr.: 42874 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken