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Karl-Siegbert Rehberg / Franziska Kunz / Tino Schlinzig (Hrsg.): PEGIDA – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und „Wende“-Enttäuschung?

11.01.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Bielefeld, transcript Verlag 2016 (xtexte)

Die Dresdner „Spaziergänge“, die die „Europäischen Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) seit Oktober 2014 durchführen, haben nicht nur zu einem zwischenzeitlichen Anstieg der Zahl an Anhängern und zur Bildung von ‚Ablegern‘ in anderen Städten geführt, sondern auch einen regen politischen und medialen Diskurs zur Bedeutung und zum Umgang mit dieser Bewegung provoziert. In diesem Band wird zunächst der Frage nachgegangen, warum dieses Phänomen ausgerechnet in Dresden aufgetreten ist. Thematisiert werden ferner die Rollen der Neuen Medien und der Massenmedien.

Rezension von Michael Rohschürmann

Die Dresdner „Spaziergänge“, die die „Europäischen Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) seit Oktober 2014 durchführen, haben nicht nur zu einem zwischenzeitlichen Anstieg der Zahl an Anhängern und zur Bildung von ‚Ablegern‘ in anderen Städten geführt, sondern auch einen regen politischen und medialen Diskurs zur Bedeutung und zum Umgang mit dieser Bewegung provoziert. Mittlerweile ist eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Beiträgen zum Thema entstanden, die das Phänomen PEGIDA in seiner unerwarteten Dimension zu beschreiben und verstehen versuchen. Diesem Ziel haben sich auch die Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes verschrieben, der an das öffentliche Public Sociology Forum der Deutschen Gesellschaft für Soziologie anknüpft, das am 30. November 2015 in Dresden stattfand. Forscherinnen und Forscher aus der gesamten Bundesrepublik stellten ihre Ergebnisse und Thesen zum Phänomen PEGIDA vor und diskutierten mit dem Publikum, darunter auch etliche PEGIDA-Anhängerinnen und -Anhänger.

Im ersten Beitrag „Dresden-Szenen“ geht Rehberg der Frage nach, warum PEGIDA gerade in Dresden entstand und am erfolgreichsten war und ist. Dabei verweist er auf ein sächsisches „Sonderbewusstsein“ (38), das nicht erst in der Bundesrepublik geboren worden sei, sondern bereits in der DDR existiert habe. Gleichzeitig schildert er eine aus der Polarisierung rund um PEGIDA hervorgegangene Politisierung der Stadt.

Auch Joachim Fischer befasst sich mit der Warum-Dresden-Frage und stellt PEGIDA in eine Reihe mit anderen „Stellvertreterdebatten“ (54), bei denen Dresden als Bühne deutscher Diskurse gedient habe. Im Detail zu nennen seien die Rolle der Dresdner Proteste bei der Wiedervereinigung, die Rekonstruktivismusdebatte rund um die Renovierung der Frauenkirche und die Frage nach dem angemessenen Gedenken an die Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg. Werner Patzelt hält PEGIDA und die AfD für deutsche Erscheinungsformen eines neuen europäischen Rechtspopulismus, gegen den „Bekämpfungsstrategien“ (69) nicht nur lokal ausgerichtet werden sollten. Außerdem sieht er „Ost-West-Verwerfungen“ neben „fremdenfeindlichen und islamkritischen Ressentiments“ als Grundlage der Bewegung, die „zur Enthemmung und Verrohung des Diskurses und zur Formierung eines neuen deutschen national-konservativen Lagers beigetragen“ (99) haben. Piotr Kocyba geht noch darüber hinaus und bezeichnet sie als „eine rechtspopulistische bis -extreme Bewegung [...], deren Teilnehmer weitgehend einen antiislamischen Rassismus verinnerlicht haben“ (147).

Die Bedeutung der Neuen Medien für PEGIDA ist, wie auch bei anderen modernen Protestbewegungen, nicht zu unterschätzen. So präsentieren Stefan Scharf und Clemens Pleul eine soziodemografische Aufschlüsselung von Besuchern und Nutzern der PEGIDA-Fanpage bei Facebook. Roger Berger, Stephan Poppe und Mathias Schuh fragen nach der Ermittlung der Demonstrantenzahlen sowie deren Einfluss auf die Mobilisierung weiterer Anhänger. Um die Dynamiken in der Bewegung seit Mitte 2015 geht es Lars Geiges. Er kommt zu dem Schluss, dass sich eine Verschärfung der Rhetorik, eine zunehmende Institutionalisierung sowie „Radikalisierung (im Umfeld) von PEGIDA“ (133) beobachten lassen. Mit der Binnenstruktur von PEGIDA befasst sich Karl-Heinz Reuband: Zum einen sind die Teilnehmer inzwischen älter und ordnen sich selbst politisch eher der Mitte als dem rechten Lager zu, während sie glauben, von der Bevölkerung zu Unrecht als rechts eingestuft zu werden. Gleichzeitig nehmen sie „fälschlicherweise ein mehrheitliches Verständnis für den PEGIDA-Protest wahr“ (165). Dieter Rucht gelangt nicht nur zu dem Schluss, dass die Bewegung an Anziehungskraft verliert, sondern zeigt auch Konzepte der Protest- und Bewegungsforschung auf, die zur Analyse des Phänomens angewendet werden können.

Der dritte Teil des Bandes ist der Rolle der Massenmedien gewidmet. Für Lutz Hagen steht fest, dass die Kritik von PEGIDA an den Medien zwar stark übertrieben sei – vor allem, da die mediale Berichterstattung wesentlichen Anteil an den Erfolgen von PEGIDA gehabt habe –, durchaus aber „gut belegte Defizite der Medien bei der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben“ (207) thematisiert worden seien. Gerade den Aspekt der Feindschaft und „Komplizenschaft“ zwischen PEGIDA und den Medien nimmt auch Tino Heim in den Blick. Er erkennt bei den Spaziergängen „eine Form politischen Übersprungshandelns“ (223). Klaus Dörre kritisiert die These, „PEGIDA und der neue Rechtspopulismus stellten eine Normalisierung des deutschen politischen Systems dar“, und ruft dazu auf, „gegen solche Vereinigungen [...] die Idee des demokratischen Klassenkampfes neu zu beleben“ (259). Dass populistische Bewegungen immer von einem imaginierten Ideal von Einheit ausgehen, konstatiert Jost Halfmann und attestiert entsprechend auch PEGIDA die Idee der „Deckungsgleichheit von Volk und Nation“ (275). Für Hartmut Rosa hingegen stellt PEGIDA das Ergebnis einer „Entfremdungskrise“ (289) und des Gefühls dar, die Politik antworte nicht mehr auf die Bedürfnisse der Menschen. Auch er sieht in der Bewegung „eine national-identitäre Verschmelzung“ – sie stelle ein utopisches Konstrukt dar. Insgesamt bietet der Band erstmals einen pointierten Überblick über die Vielzahl der aktuellen Untersuchungen und Deutungen des Phänomens PEGIDA. Zugleich werden offene Fragen sichtbar und die Notwendigkeit, weiterhin Hintergründe und Entwicklungslinien empirisch vertieft zu untersuchen.

Auch nach diesem vorläufigen Resümee der PEGIDA-Forschung bleiben Fragen offen. Was fehlt, ist ein Blick auf die Positionierung der Bevölkerung insgesamt zu den von PEGIDA vertretenen Thesen – deutschlandweit, im Bundesland Sachsen und in Dresden insbesondere. Zu den Fragen, die die Wissenschaft noch nicht beantwortet hat, zählt auch die folgende: „Warum gerade Dresden?“ – Antworten finden sich ansatzweise im Artikel von Karl-Siegbert Rehberg, aber keine umfassende Erklärung.

 

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