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Karl-Rudolf Korte (Hrsg.): Politik in unsicheren Zeiten. Kriege, Krisen und neue Antagonismen

28.03.2017
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Baden-Baden, Nomos 2016 (Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, DGfP, 34)

Der Sammelband, der aus der 33. Jahrestagung (2015) der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft in Mülheim an der Ruhr hervorgegangen ist, deckt ein sehr weites Themenspektrum ab. Einleitend nimmt Karl-Rudolf Korte indes eine Zuschneidung vor, indem er die durch die Agenda der Flüchtlingspolitik sichtbaren Herausforderungen der Globalisierung für Deutschland skizziert und Folgen steigender Verschiedenheit der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Ob die Zunahme einer von Migration und Flucht ausgelösten Verschiedenheit primär als kulturelle oder soziale Bedrohung wahrgenommen wird oder nicht, hängt gewiss von einer Vielzahl von Faktoren ab. Jedenfalls – so Kortes Resümee – verändert der Globalisierungsschub „die Qualität unserer Demokratie“ (18) und offen ist, in welche Richtung. Die Autorinnen und Autoren behandeln – allerdings in durchaus unterschiedlicher methodischer Qualität – teils konzeptionelle (a), teils thematische Aspekte (b, c) von Politik, die angesichts zunehmender Unsicherheiten mit dieser Verschiedenheit umgehen muss.

(a) Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Thematisierung von Globalisierungsfolgen
Konzeptionell an sicherheitspolitische Überlegungen der Copenhagen School anknüpfend, analysiert Bruno Godefroy eine spezifische semantische Verschiebung im öffentlichen Diskurs, die gegenwärtig – wie in Frankreich angesichts der terroristischen Anschläge – das Grundrecht auf sureté (Freiheit der Person gegenüber dem Staat) als Grundrecht auf sécurité (Schutz der Gesellschaft durch den Staat) darstellt. Exemplarisch dient ihm die von Reinhart Koselleck entwickelte Krisentheorie als Beleg einer konservativen Begriffspolitik, die die Rede von Krisen zur impliziten Legitimierung des Ausnahmezustandes verwendet. Mit spezifisch normativen Herausforderungen zunehmender Globalisierung setzen sich Christiane Bausch und Nina Elena Eggers sowie Janne Mende auseinander. Ausgehend von Richard Rortys These, Solidarität sei wesentlich von unserem Vermögen zur Empathie bestimmt, erörtern Bausch und Eggers mit Blick auf die europäische Flüchtlingsfrage Perspektiven von Solidarität jenseits territorialer Zugehörigkeiten. Da im Zuge von Globalisierungsprozessen nichtstaatliche Akteure deutlich an Handlungsfähigkeit gewonnen haben, muss die Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten neu justiert werden. Unter Berücksichtigung feministischer Ansätze votiert Mende für ein Vermittlungsmodell, das je nach Kontext die Verantwortung privater Akteure für Menschenrechtsverletzungen geltend machen kann. Till van Treeck bezieht sich kritisch auf die geringe Relevanz, die die steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit zumal bei deutschen Wirtschaftswissenschaftlern findet. Eher am Rande dieser Diskussion liegt die Frage nach der Einheit der Politikwissenschaft. Während die Gründergeneration, die das Fach nach 1945 etabliert hat, mit ihrer explizit demokratiewissenschaftlichen Orientierung über eine normative Basis verfügte, die in der alten Bundesrepublik gesellschaftliche Anerkennung fand, bleibt für Eckard Jesse die Politikwissenschaft heute aufgrund überzogener Spezialisierung weitgehend ohne öffentliche Resonanz. Die Bilanz Oscar W. Gabriels fällt nicht wesentlich besser aus: Zwar ist die Disziplin längst Teil des regulären Wissenschaftssystems, aber nach wie vor tritt sie mit dem Gegensatz von kulturwissenschaftlicher vs. empirischer Orientierung als methodologisch gespaltenes Fach auf.

(b) Unsicherheiten im Kontext internationaler Beziehungen
Ingo Take diskutiert drei globale sicherheitspolitische Herausforderungen – asymmetrische Kriege, Prozesse des Staatszerfalls, transnationaler Terrorismus – und entwickelt vor diesem Hintergrund typische Dilemmata der internationalen Staatengemeinschaft. In diesem Kontext deutet Markus Kaim die seit einigen Jahren an Deutschland gerichtete Erwartung, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen, auch als Reflex auf die veränderten Rahmenbedingungen: also Folgen des deutlich reduzierten Engagements der USA in Europa und Nahost, der aus unterschiedlichen Gründen eingeschränkten Handlungsfähigkeit der EU und schließlich starker Tendenzen einer Renationalisierung in wichtigen Mitgliedstaaten. Aus der Perspektive eines von Kant inspirierten ethischen Kosmopolitismus diskutiert Heinz-Gerhard Justenhoven die „Neue Verantwortung in der Außenpolitik“; Leitlinie eines stärkeren deutschen Engagements müsse sein, „weltweit für die Akzeptanz des internationalen Rechts“ (208) und der entsprechenden Rechtsinstitutionen einzutreten und zu werben. Mit Einschränkungen gehört auch Uwe Wagschals Rekapitulation unterschiedlicher – ökonomischer, finanzieller, institutioneller, kultureller – Erklärungen der griechischen Staatsschuldenkrise in den Kontext europapolitischer Herausforderungen.

(c) Politisches Entscheiden unter Kontingenzbedingungen
Als „Fundstücke aus dem Zettelkasten eines aufmerksamen Zeitgenossen“ (101) skizziert Bodo Hombach eine Abfolge aktueller Krisen und kommentiert überwiegend assoziativ eine Reihe allgemein gehaltener Krisenursachen. An den Beispielen Energiewende, Finanz- und Flüchtlingskrise entwirft Werner Weidenfeld das Bild eines pragmatisch-exekutiven Regierungsstils der Bundeskanzlerin. Jenseits dieser eher journalistischen Beobachtungen setzen sich Jan Tapper und Robin Wilharm analytisch mit dem Modus politischen Entscheidens unter Unsicherheit auseinander. Tapper entwirft einen Ansatz, der die spezifischen Schwächen konventioneller und systemtheoretischer Risikoanalysen – nämlich Messproblemen auf der einen und der generellen Behauptung riskanter Entscheidungen auf der anderen Seite – durch die Gegenüberstellung von endogenen und exogenen Entscheidungsfolgen mit jeweils positiven oder negativen Ausprägungen überwinden soll. Entscheidungen in Krisenmomenten werden zumeist an Spitzenakteure der Exekutive adressiert; mit Mitteln der politischen Psychologie beschreibt Wilharm Entscheidungen unter hohem Zeitdruck als das Zusammenspiel zweier Entscheidungsmodi, bei dem – je nach Akteurstypus – entweder eher eine intuitive oder aber eine stärker Alternativen prüfende Heuristik zur Geltung kommt. Angesichts der im Sammelband angesprochenen Krisen gewinnen Reaktionen und Einstellungen der Bevölkerung nicht nur parteipolitische Relevanz. Zwar geben aktuelle bundesweite Umfragen – wie Florens Mayer darstellt – noch keine Hinweise auf große politische Stimmungsschwankungen, aber in unterschiedlicher Intensität zeigen sich auf regionaler Ebene Phänomene einer erstarkenden rechtspopulistischen Empörungsbewegung. Maik Herold und Steven Schäller beschreiben beispielhaft an den PEGIDA-Demonstrationen in Dresden die Herausbildung eines für deutsche Verhältnisse neuen politischen Konfliktes zwischen einem „liberal-kosmopolitisch eingestellten und einem eher konservativ-ethnozentrisch orientierten Bevölkerungsteil“ (276).

 

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