Georg Diez / Emanuel Heisenberg: Power To The People. Wie wir mit Technologie die Demokratie neu erfinden

07.10.2020
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Prof. Dr. Rainer Lisowski
Berlin, Hanser Literaturverlag 2020

Stellen Sie sich vor es gäbe eine Maschine, mit der die Menschen das Wetter bestimmen könnten. Was würde passieren? Sehr bald gäbe es Streit. Touristen bestellten Sonnenschein, Landwirte Regen. Vor über dreißig Jahren, in einer Welt vor dem Internet, beschrieb Christian von Krockow dieses Szenario und fasste scharfsichtig zusammen: Technologisierung führt stets zu Politisierung, und zwar – im Sinne Carl Schmitts – zu Konflikten. Technische Machbarkeit verschärft den politischen Streit, sie mildert ihn nicht ab.

Der Titel von Georg Diez und Emanuel Heisenberg suggeriert eine eher unstrittige, eine implementationsorientierte Aussicht auf das Thema. Das Wort „wie“ fragt ja weniger nach Grundsätzlichem, sondern stärker nach Machbarem. Leider geht es in dem kurzen „Manifest“ kaum um dieses „wie“. Vielmehr ist es ein mit grellbunten Worten gespicktes Traktat, keine sachbetonte Bedienungsanleitung und zudem eines, das unerquicklich an der Oberfläche kratzt, statt in die Tiefe zu gehen.

Poppig und in einem kleinen Format präsentiert sich die Publikation, mit einem knallgrünen Umschlag, einer attraktiven Typografie und ansprechenden Gestaltung sowie einem hervorragend lesbaren Layout. In sieben kurzen Kapiteln soll via Technik „power to the people“ gelangen: Demokratie, Identität, Autonomie, Teilhabe, Experiment und Bewegung, „[S]uper local, ‚hyper global“ (119), „Macht und Empathie“ (139) lauten die Überschriften dieser Kapitel. Jedes von ihnen beginnt mit Stichworten (in der Beratungsszene ‚bulletpoints‘ genannt) zum Einstieg und endet in einer halbseitigen Zusammenfassung – vermutlich sind diese für das eilige Lesen gedacht. In gewisser Weise unterstreicht das Layout damit schon den Grundcharakter des Buches: Es ist auf kursorisches Lesen ausgerichtet. Für den hektischen Konsum während des kurzen Fluges von Berlin nach München. Und so könnte man das Buch auch einfach mit diesem Zitat zusammenfassen: „Unsere Sympathie gilt den experimentellen und graswurzelhaften Versuchen, andere Formen von Autorität, Macht, Kontrolle, Verantwortung, Markt und Politik zu schaffen.“ (59) Die Sympathie wird im ganzen Text überdeutlich und die übergroße Themenbreite ebenso erreicht, jedoch leider nur, indem wichtige Themen lediglich stichpunktartig angerissen werden. Rasch beschleicht einen das Gefühl: Hier fehlt etwas! Und blättert man dann vor und zurück und schaut schließlich auf den Buchumschlag, bei dem sofort das Wort „wie“ ins Auge springt. Genau dieses „wie“ sucht man jedoch vergebens. Wie konkret man mithilfe von Technik Kontrolle und Verantwortung schaffen könnte, davon ist so gut wie nie die Rede. Nur gefordert wird es.

Die Kapitelüberschriften geben den zu erwartenden Inhalt nur in Teilen wieder. „Identität“ (33) verhandelt im Wesentlichen altbekannte Annahmen zur Zukunft der Arbeitswelt. Bei „Autonomie“ (55) ist völlig unklar, worauf die Autoren hinarbeiten. „Irgendwas mit Blockchain“ wäre wohl noch die treffendste Antwort. Immer wieder bietet das Buch auch einen kleinen ‚Gruselfaktor‘, wenn über die Auswüchse einer vollkommen digitalisierten und automatisierten Welt geschrieben wird. Hier sei Interessierten aber eher die Publikation des Soziologen Thomas Wagner „Robokratie. Google, Facebook, das Silicon-Valley und der Mensch als Auslaufmodell“ (2015) empfohlen.

Der erste Kernvorwurf des Rezensenten lautet: Dieses Buch ist voll von nachlässigem, losen Denken. Es ist weder sehr „dicht“ geschrieben, noch so gedacht. Nahezu alle Aspekte werden nur oberflächlich angerissen. Wie sollen etwa durch digitale Techniken die politische Arbeit, insbesondere die der Parteien verbessert werden? – Verwiesen wird auf die Piratenpartei und auf die Bewegung En Marche (107, 115).

Der zweite Kernvorwurf lautet: Das Buch ist wahlloses ‚Buzzword-Bingo‘. Es finden sich auf den etwa 150 Seiten eine Reihe ‚schicker‘, aber weitgehend inhaltsleerer Begriffe und Formulierungen, wie zum Beispiel „Technologische Graswurzelbewegung“ (20), „permanente Lern- und Veränderungskultur“ (39), „Zukunft vom Menschen her denken“ (64), „Überwachungskapitalismus“ (74), „Daten gehören allen“ (79), „kognitiver Kapitalismus“ (95), „Starkstrom-Demokratie“ (102).

Ohne das im Buchtitel versprochene „wie“ bleiben die Aussagen plakativ und schwammig. Selbst an den wirklich interessanten Stellen geht das Buch über Forderungen nicht hinaus, wenn beispielsweise darüber geschrieben wird, wie im Stadtraum „smarter cities“ erhobene Daten bei den Bürgerinnen und Bürgern verbleiben könnten, außer losen Verweisen auf Versuche in Toronto oder Barcelona werden die Leser*innen nicht in die Tiefe geführt (77 ff.). Wie eine digitale Allmende geschaffen werden könnte, wäre in der Tat spannend zu lesen gewesen – spannender jedenfalls als die mehr beiläufig erwähnten „Radwege“ und „Transparenz-Briefkästen“ (82).

Der dritte Vorwurf lautet: Dieses Buch basiert auf einem zu positiven Menschenbild. Die Autoren selbst schreiben beispielsweise: „Das Vertrauen in die Möglichkeiten der Menschen, wenn sie sich zusammenschließen, ist der Schlüssel für eine bessere demokratische Praxis.“ (28) Kaum ein Wort findet sich zur Frage, welche negativen Folgen sich aus den von Diez und Heisenberg positiv gedachten Entwicklungen ergeben könnten. Das Buch suggeriert vielmehr: Gelänge es erst einmal, den Konzernen und Staaten die Herrschaft über die Daten zu entreißen und den Bürgerinnen und Bürgern zu übergeben, dann werde schon alles gut. Darin drückt sich der Glaube im Sinne Rousseaus an das grundlegend Gute im Menschen aus, das doch nur von den schlechten gesellschaftlichen Gegebenheiten verformt werde.

Daher ist abschließend eine Warnung angebracht, die ebenfalls von Christian von Krockow stammt: „Im Panzer eines schrankenlos guten Gewissens werden wir dazu verführt, unsere Auffassung mit allen Mitteln durchzusetzen“. Robespierre, so von Krockow, sei nichts anderes, als die blutige Hand von Rousseau gewesen. Daher hüte man sich vor solchen Manifesten, wie wohlmeinend sie auch immer daherkommen mögen.

 

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Aus der Annotierten Bibliografie

Thomas Wagner

Robokratie. Google, das Silicon-Valley und der Mensch als Auslaufmodell

Köln: PapyRossa Verlag 2015; 177 S.; 13,90 €; ISBN 978-3-89438-581-1
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Christian Graf von Krockow

Die Zukunft der Geschichte. Ein Vermächtnis

München: List Verlag 2002; 208 S.; geb., 20,- €; ISBN 3-471-79467-0
Mit einer scharfen Kritik am gegenwärtigen Geschichtsbewusstsein beendete der im März 2002 verstorbene Politikwissenschaftler sein wissenschaftliches Werk. Der Auslöser für seine Kritik war die nach dem 11. September 2001 weit verbreitete Ansicht, dass die Terroranschläge etwas völlig Neues seien. Für von Krockow aber sind die Ähnlichkeiten mit dem Terrorregime der Nationalsozialisten offensichtlich. Da diese Zusammenhänge jedoch kaum oder gar nicht gesehen würden, bräuchten wir ein anderes Gesc...weiterlesen


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