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Lena-Simone Günther / Saskia Hertlein / Bea Klüsener / Markus Raasch (Hrsg.)

Radikalität. Frühe Neuzeit und Moderne

Würzburg: Königshausen & Neumann 2013 (Religiöse, politische und künstlerische Radikalismen in Geschichte und Gegenwart 2); 301 S.; brosch., 44,- €; ISBN 978-3-8260-4793-0
Kann man im 21. Jahrhundert, kann man in der Postmoderne überhaupt noch radikal sein? In einer bis in die frühe Neuzeit zurückreichenden und damit historisch akzentuierten Rekonstruktion liefern die Beiträge des Sammelbandes, der auf eine Vortragsreihe an der Universität Eichstätt‑Ingolstadt zurückgeht, exemplarische Ausdeutungen und Reflexionen über politische, religiöse oder künstlerische Radikalismen. Radikalität, so die Herausgeber, meint zunächst, entgegen der landläufigen negativen Konnotation des Begriffes, eine Sicht‑ oder Denkweise, die sich im Unterschied zum Bestehenden als grundsätzlich neu und damit schlicht als anders begreife. Wolfgang Kraushaar etwa geht in seinem spannenden Beitrag nicht nur der Frage nach, wie radikal die RAF gewesen ist. Vielmehr unternimmt er auch den – aus politikwissenschaftlicher Perspektive wichtigen – Versuch, Radikalismus und Extremismus voneinander zu unterscheiden. Hinsichtlich der politischen Qualität der RAF kommt er dabei unter anderem zu dem Schluss, dass die in ihrem Kern „unpolitische“ Gruppe sich lediglich „ideologischer Hülsen“ (116) bedient habe, um ihre Entschlossenheit nach außen zu verkaufen. Diese – im eigentlichen Sinne – „Pseudoradikalität“ (117) unterscheide sich ihrerseits dadurch vom politischen Extremismus, dass sie Positionen zwar zugespitzt denke, dabei aber noch nicht die verfassungsmäßige Grundlage des Staates – etwa die freiheitlich‑demokratische Grundordnung – infrage stelle. Insoweit ist radikale Kritik immer auch Bestandteil eines pluralistischen, öffentlichen Diskurses. Eine ganz andere Perspektive, weit jenseits des bundesrepublikanischen Politikbetriebes, nimmt Florian P. Kühn in seinem Beitrag ein. Er führt mit Blick auf das sicherheitspolitische Handeln westlicher Regierungen in Afghanistan, Irak und Libyen die häufig dysfunktionale Radikalität eines Sicherheitsdenkens vor, das voll und ganz in einer politischen „Machbarkeitsideologie“ (292) aufgeht. In Anknüpfung an die derzeit unter dem Label Postdemokratie geführten Debatten liefert der Aufsatz von Walter Otto Ötsch über die Marktradikalität ein weiteres, spannendes Highlight. Der gegenwärtige Diskurs über ‚den Markt’, so Ötsch, sei – auch bei Hayek – so sehr dogmatisiert, dass selbst offenkundige Fehlentwicklungen nicht mehr zu einem Umdenken beitragen könnten. Hier wird Radikalität total – in ihrer Unbedingtheit und in ihrer Abschließung. Nur diese drei Facetten des Bandes, der in so vielen Aspekten ungemein nah an der politischen und sozialen Aktualität entlanggeht, mögen hier genügen, um zu unterstreichen, dass die Lektüre extrem lohnenswert und radikal bereichernd ist – und nicht nur für ein universitäres Publikum.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 1.3 | 2.23 | 2.312 | 2.313 | 2.37 | 2.25 | 5.42 | 4.2 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Lena-Simone Günther / Saskia Hertlein / Bea Klüsener / Markus Raasch (Hrsg.): Radikalität. Würzburg: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35840-radikalitaet_43698, veröffentlicht am 13.06.2013. Buch-Nr.: 43698 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken