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Jörg Baberowski

Räume der Gewalt

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2015 (Geschichte); 263 S.; geb., 19,99 €; ISBN 978-3-10-004818-9
Die Gründe für Ausbrüche massenhafter Gewalt werden in vielen Wissenschaftsdisziplinen erforscht. Einen konzeptionell‑theoretischen Gesamtentwurf zur Deutung solcher Phänomene aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft legt der Berliner Osteuropahistoriker Jörg Baberowski mit diesem Buch vor. Darin schildert er Gewalt als eine letztlich unvermeidliche menschliche Grunderfahrung, die nur durch klare Machtverhältnisse begrenzt werden könne. Diese seien wiederum nur über zumindest potenziell ausübbare Gewalt zu sichern: „Ordnung ist eine Voraussetzung, um Gewalt einzudämmen, die Gewalt ein Mittel, Ordnung aufrechtzuerhalten“ (213). Hatte sich der Autor in seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der stalinistischen Gewaltherrschaft in der Sowjetunion zunächst (siehe Buch‑Nr. 23117) noch zustimmend auf Zygmunt Baumans Deutung der Moderne als Kampf um Eindeutigkeit und gegen Ambivalenz bezogen, nahm er diese Deutung zuletzt (siehe Buch‑Nr. 42067) zurück. Daran anknüpfend und in der Auseinandersetzung mit anderen Denkern wie Wolfgang Sofsky oder Johan Galtung verwehrt er sich auch hier gegen eine ideengeschichtlich‑intentionale Begründung von Gewaltausübung. Stattdessen vertritt er einen situativen Ansatz. Die titelgebenden Räume der Gewalt als soziales, aber auch als geografisches Umfeld, in denen strukturelle Voraussetzungen und personelle Prädispositionen zusammentreffen, ermöglichen demnach das Praktizieren entsprechender Handlungen. Geprägt seien solche Situationen von wiederum räumlich bestimmten spezifischen Dynamiken, die den beteiligten Akteuren andernorts nicht mögliche Handlungsoptionen eröffnen. Als Beispiele dienen neben den stalinistischen und nationalsozialistischen Verbrechen auch andere Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts wie die Massenmorde der Roten Khmer oder der Völkermord in Ruanda. Programmatisch führt der Autor mit Quellenzitaten immer wieder die Folgen von Gewalt vor Augen, „Verletzte und Tote, Schmerz, Blut und Tränen“ (11). Das stilistisch ausgefeilte Buch entfaltet so einen suggestiven Sog, will Gewalt erfahrbar machen. In seinen klaren Wertungen liefert es einen instruktiven Beitrag zu einer interdisziplinären Gewaltforschung, dürfte an vielen Stellen aber nicht unwidersprochen bleiben.
{MUN}
Rubrizierung: 2.22.255.42 Empfohlene Zitierweise: Martin Munke, Rezension zu: Jörg Baberowski: Räume der Gewalt Frankfurt a. M.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39218-raeume-der-gewalt_44695, veröffentlicht am 07.01.2016. Buch-Nr.: 44695 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken