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Wilhelm Heitmeyer / Manuela Freiheit / Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II

20.10.2021
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Berlin, Suhrkamp Verlag 2020

Die Reichweite rechter Bedrohungen habe sich deutlich vergrößert, so der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer in der gemeinsam mit Manuela Freiheit und Peter Sitzer publizierten Studie, die die 2018 erschienene Untersuchung „Autoritäre Versuchungen“ fortschreibt. „Ihre Akteure sind mittlerweile bis in die Strukturen und Institutionen der demokratischen Kultur vorgedrungen.“ Diese Entwicklung zeige sich exemplarisch am verdeckten Eindringen in Sicherheitsinstitutionen wie Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz. Im Kampf um eine kulturelle Hegemonie überlagerten sich neo-rassistische und antisemitische Elemente, so Rezensent Thomas Mirbach. (ste)

Eine Rezension von Thomas Mirbach

Die von Wilhelm Heitmeyer gemeinsam mit Manuela Freiheit und Peter Sitzer publizierte Studie über rechte Bedrohungsallianzen stellt eine Fortschreibung der 2018 erschienenen Untersuchung Heitmeyers „Autoritäre Versuchungen“ dar, die wiederum auf die zahlreichen Arbeiten verweist, die der Autor zuvor am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung veröffentlicht oder initiiert hat – dazu gehört ganz wesentlich das zwischen 2002 und 2011 durchgeführte empirische Langzeitprojekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Beide Bände sind Teil der neuen Reihe „Signaturen der Bedrohung“, die sich aus Sicht der Soziologie mit den Spuren befassen will, die autoritäre Bedrohungen in Gesellschaften und bei Individuen hinterlassen (Heitmeyer 2018, 10). Ebenso gemeinsam ist beiden Bänden der explizite gesellschaftsanalytische Zugang; den theoretischen Rahmen zur Erklärung der rechten Bedrohungs- und Zerstörungsaktivitäten bilden die neueren Entwicklungen des „autoritären Kapitalismus“ (Loch/Heitmeyer 2001).

Dieser Zugang, der sich methodologisch deutlich ebenso von der klassischen Rechtsextremismusforschung wie von etlichen aktuellen Einstellungserhebungen und Diskursanalysen unterscheidet, hebt auf struktureller Ebene drei Tendenzen hervor: zunehmende Ausbreitung kapitalistischer Vergesellschaftung, steigende Ökonomisierung des Sozialen und Phänomene der Demokratieentleerung (Heitmeyer 2018, 118 ff.; Heitmeyer et al. 2020, 43 ff.). Auf empirischer Ebene lassen sich Zusammenhänge zwischen diesen gewiss sehr abstrakt gefassten Tendenzen an markanten Krisen der letzten zwei Jahrzehnte ablesen; dazu zählen „‚9/11’ (2001), [...] ‚Hartz-IV’ (seit 2005), die Banken- und Finanzkrise (2008-2009) sowie die sogenannte ‚Flüchtlingskrise’“ (13). Diese Entwicklungen bestärken in relevanten gesellschaftlichen Teilsystemen Kontrollverluste, die alltagsweltlich von vielen als schleichende Prozesse der Entsicherung von Lebenssituationen, Lebensplanungen und Statuspositionen wahrgenommen werden und „autoritäre Versuchungen“ in unterschiedlichen Kontexten fördern (43 ff.).

Während sich der erste Band der Reihe im Schwerpunkt mit der Ausbreitung des von der AfD verkörperten autoritären Nationalradikalismus befasst, geht es jetzt bei dem zweiten Band um die Analyse der steigenden Ausdifferenzierung, Intellektualisierung und Dynamisierung des rechten politischen Spektrums in Deutschland. Die Reichweite rechter Bedrohungen hat sich deutlich vergrößert: „Ihre Akteure sind mittlerweile bis in die Strukturen und Institutionen der demokratischen Kultur vorgedrungen.“ (23) Das lässt sich exemplarisch am verdeckten Eindringen in Sicherheitsinstitutionen wie Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz zeigen (72 ff.). In soziologischer Perspektive stehen deshalb die interaktiven Prozesse zwischen der Desintegrationsdynamik auf gesellschaftlicher Ebene, den Organisations- und Aktionsformen des bewegungsförmigen Rechtsextremismus und den sich ausbreitenden Ideologien der Ungleichwertigkeit im Zentrum (54 ff.).

Viel ausführlicher als bisher (Heitmeyer 2018, 356) und auf die aktuelle Entwicklung bezogen arbeiten die Autor*innen das „konzentrische Eskalationsmodell“ als Analyserahmen für rechte Bedrohungsallianzen aus (58 ff.). Mit diesem Ansatz, dem das Konzept sozialer Milieus zugrunde liegt, werden – bildlich gesprochen – fünf sich zwiebelförmig überlagernde Schichten unterschieden, die jeweils Gegenstand eines eigenen Kapitels sind. Die erste, äußerste Schicht bilden gesellschaftsweit vorhandene Einstellungen, die sich – als unterschiedliche Artikulationen einer Ideologie der Ungleichwertigkeit – dem Komplex gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zuordnen lassen (90 ff.). Das Milieu des autoritären Nationalradikalismus betrifft als zweite Schicht politisch-organisatorische Formierungen autoritärer Bewegungen; dabei verdichtet vor allem die AfD die menschenfeindlichen Einstellungen zu kollektiven Aussagen und fungiert als deren parlamentarischer Arm (102 ff.). Zur dritten Schicht zählt das systemfeindliche Milieu, in dem rechtsextremistische und neonazistische Parteien (NPD, Die Rechte) und Gruppierungen (Identitäre Bewegung, Kameradschaften, Reichsbürger) mit expliziter Gewaltakzeptanz und taktischem Verhalten gegenüber möglichen staatlichen Auflagen operieren (145 ff.). Fallweise ergeben sich hier Anschlussmöglichkeiten an Aktionen des klandestinen Planungs- und Unterstützungsmilieus – der vierten Schicht –, in dem konspirativ agierende Gruppen gewaltsam gegen als politisch markierte Gegner oder Vertreter des demokratischen Systems vorgehen (207 ff.). Davon wird schließlich als fünfte Schicht die von terroristischen Vernichtungsakteuren abgehoben, die – sei es gruppenförmig oder individuell – den verdeckten Kampf gegen das demokratische System betreiben; der Unterschied zum vorigen Milieu besteht hauptsächlich im Grad der Klandestinität (213 ff.).

Zwei wichtige Annahmen ergänzen diesen Analyserahmen. Einerseits gehen die Autor*innen von spezifischen Legitimationsströmen zwischen den einzelnen Milieus aus, die das Eskalationskontinuum insgesamt festigen. So wirken Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als Legitimationszulieferer für die diversen Spielarten des autoritären Nationalradikalismus, der wiederum innerhalb seiner Organisationsformen – und vielfach unterstützt von intellektuellen Akteuren eines rechtskulturellen Milieus – als Legitimationsverdichter fungiert (64 ff.). Andererseits müssen funktionale Ausdifferenzierungen der Aktionsräume beachtet werden (72 ff.). Das gilt in erster Linie für den Umstand, dass rechte Bedrohungsallianzen ihre Wirkung durch das parallele Agieren mit Machtdemonstrationen, Bedrohungen und physischer Gewalt in realen Räumen und mit der Verbreitung von Hass und ideologischer Radikalisierung in virtuellen Räumen verstärken. Dabei darf jedoch nicht die Ausdifferenzierung von Sozialräumen übersehen werden, weil gerade die ländlich-kleinstädtische Peripherie eine spezifische Gelegenheitsstruktur für rechtsautoritäre Bewegungen darstellt (202 ff.).

Mit diesen Einzelanalysen wird die leitende Annahme, wir hätten es in Deutschland mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Dynamisierung rechter Bedrohungsallianzen zu tun, konzeptionell und empirisch plausibel.

Resümierend heben die Autor*innen fünf Dimensionen dieses Prozesses als zentral hervor (266 ff.).

(1) Im Zuge intellektueller Modernisierungen wird die frühere Re-Kultivierung der NS-Ideologie von dem Kampf um eine kulturelle Hegemonie abgelöst, in der sich neo-rassistische und antisemitische Elemente überlagern.

(2) Die sich darin zeigende Ausweitung der Zone des Sagbaren findet ihren Niederschlag in Zustimmungen im politischen Raum, die sich nicht nur auf die vermeintliche politische Mitte erstrecken, sondern auch proklamierte Abgrenzungen gegenüber dem Rechtspopulismus mindestens in Teilbereichen unterlaufen.

(3) Die zunehmende Digitalisierung der Kommunikation eröffnet durch Bildung komplexer überregionaler und internationaler Netzwerke eine bisher unbekannte Dynamik der Mobilisierung im virtuellen Raum.

(4) Mit der Flexibilisierung von Aktions- und Kommunikationsformen gehen Prozesse der Entgrenzung einher, die sich am gezielten Eindringen in Sicherheitsbehörden, an Transformationen von partei- zu bewegungsförmigen Aktionen und an Vorverlagerungen von Bedrohungen in den privaten Raum ablesen lassen.

(5) Schließlich ist im Bereich des Rechtsterrorismus die Entstehung eines neuen Typus sendungsbewusster Täter zu beobachten, die ihre Taten in sozialen Netzwerken medial präsentieren und damit vervielfältigen.

Aufs Ganze gesehen liegt der Wert dieser Studie in der empirischen Fortschreibung des in zahlreichen früheren Veröffentlichungen ausgearbeiteten gesellschaftsanalytischen Ansatzes. Deutlich wird dabei, in welcher Differenzierung sich rechte Bedrohungsallianzen – getragen von spezifischen Akteurskonstellationen, Milieus, Kommunikations- und Aktionsformen – mittlerweile etabliert haben. Dass dies nicht nur in Deutschland der Fall ist (281 ff.), verweist noch einmal auf strukturelle Herausforderungen demokratischer Gesellschaften, auf die politische Akteure bisher teils verharmlosend, teils unterschätzend reagiert haben. An einem spezifischen Segment dieser Herausforderungen bestätigt und ergänzt diese Studie die Befunde über Tendenzen von Entdemokratisierung, wie sie Philip Manow und Adam Przeworski herausgearbeitet haben.


Literatur

Loch, Dietmar / Wilhelm Heitmeyer (2001): Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. Eine Analyse von Entwicklungstendenzen. In: Dies. (Hrsg.): Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien. Frankfurt a. M., Suhrkamp-Verlag, S. 497-534.

 

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Externe Veröffentlichungen

Jens Balzer / 10.10.2020

Deutschlandfunk Kultur

 

Georg Auernheimer / 06.01.2021

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