Sybille Steinbacher (Hrsg.): Rechte Gewalt in Deutschland. Zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Gesellschaft, Politik und Justiz
13.03.2017
Die erschreckende Zunahme rechtsextremer Gewalttaten im Zuge der Flüchtlingskrise sowie das Ausbleiben weitreichender Konsequenzen aus den NSU-Morden offenbaren, dass das Ausmaß rechter Gewalt in Deutschland lange unterschätzt worden ist. In diesem Sammelband werden alle relevanten Facetten dieses Themas beleuchtet, das auf wenig politische Aufmerksamkeit stößt. Die Leiterin des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte, Sybille Steinbacher, führt hier Beiträge der gleichnamigen Tagung vom Oktober 2015 zusammen. Bereits seit 2000 diskutieren Wissenschaftler*innen, Politiker*innen und Journalist*innen im Rahmen des jährlichen Dachauer Symposiums die Relevanz des Nationalsozialismus für die Gegenwart. Insofern ist es naheliegend und sinnvoll, nach Kontinuitäten und Parallelen zu suchen und NS-Bezüge in der Gegenwart, etwa beim NSU, herauszustellen.
Die bekannten Umstände sowie die vielen noch immer ungeklärten Fragen zum NSU-Komplex werden im ersten Teil des Bandes erörtert. Das betrifft primär die politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen, wie Hajo Funke hervorhebt. Diese seien auch deshalb schwierig zu ziehen, weil die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse noch immer an mangelnder Transparenz seitens der Geheimdienste leide, so ein Fazit des Journalisten und Filmemachers Dirk Laabs. Am Beitrag des Rundfunk-Journalisten Thies Marsen wird insbesondere der Stellenwert internationaler Rechtsrock-Netzwerke wie „Blood & Honour“ für den äußerst gewaltbereiten, harten Kern der Szene deutlich.
Der zweite und dritte Teil des Bandes erweitern das Thema „rechte Gewalt“ um die gängigen Facetten rechtsextremer Einstellungen in der gesellschaftlichen Mitte, Phänomene sich radikalisierender „einsamer Wölfe“, Gender und die Rolle der Medien. Mit Letzterer setzt sich der SZ-Journalist und Journalistik-Professor Tanjev Schultz auseinander. An zahlreichen Beispielen verdeutlicht er die Schwierigkeiten, die mit der Recherche und Berichterstattung zum Rechtsextremismus verbunden sind. Dazu zählen gesellschaftliche Erwartungshaltungen ebenso wie mediale Reflexe, die auch in anderen Zusammenhängen kritikwürdig sind. Die in der Arbeit mit rechtsaffinen Jugendlichen und Opfern rechter Gewalt erfahrene Claudia Luzar beleuchtet am Beispiel Dortmunds den ebenfalls großen, aber erstaunlich wenig in der Öffentlichkeit präsenten Bereich der Opferperspektive. Sie schildert die Besonderheiten, die bei Opfern politisch motivierter Taten den Umgang mit den Folgen der Taten erschweren können. Traumata beispielsweise können hier schwerer ausfallen als bei unpolitisch motivierten Gewalterfahrungen, weil die Betroffenen aufgrund unveränderlicher Eigenschaften wie ihrer Hautfarbe zu Opfern wurden.
Die Beiträge stammen allesamt von führenden Fachvertreter*innen und liefern einen guten Überblick, auch wenn ihre Thesen oft bereits aus früheren Publikationen bekannt sind. Aufgrund der angelegten Breite erreichen die Beiträge unvermeidlich eine geringere Tiefe und leider stehen sie zudem recht zusammenhanglos nebeneinander. Die Dokumentation des Podiumsgesprächs der beteiligten Autoren stellt diese Zusammenhänge wenigstens ansatzweise her. Der Rahmen des Symposiums hätte durchaus Gelegenheit geboten, Leitfragen zu formulieren, an denen sich die Beiträge hätten orientieren können. Die stellenweise angeklungene Frage nach den Kontinuitäten aus der NS-Zeit, also welche Bedeutung etwa die NS-Ideologie innerhalb des NSU hatte, hätte hier einen deutlichen Erkenntnisgewinn bringen können.