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Stalinismus – Systemumbruch – Geschichtspolitik. Eine Auswahl an Kurzrezensionen

04.07.2017
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Autorenprofil
Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin

Eugene Ivanov 800Illustration: Eugene Ivanov (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eugene_Ivanov_800.jpg: CC BY-SA 4.0)

 

In Russland ist eine selektive und dabei vor allem politisch zielgerichtete Deutung der eigenen respektive der sowjetischen Geschichte zu beobachten, wie sich in einigen der hier vorgestellten Bücher zeigt. Ohne Stalin zu rehabilitieren, schreibt beispielsweise Anna Becker, werden Errungenschaften seiner Zeit (Industrialisierung, Sieg über Hitler‑Deutschland und Aufstieg der Sowjetunion zur Supermacht) wieder positiv hervorgehoben und dabei – mit Blick auf die Gegenwart, also auf Präsident Vladimir Putin – auch die Qualitäten einer starken Führungspersönlichkeit betont. Die stalinistischen Verbrechen werden tendenziell ausgeblendet und deren Aufarbeitung gar gestört oder unterbunden, wie die Menschenrechtsorganisation Memorial bei ihrer Arbeit immer wieder erfahren muss – seit 2012 müssen sich deren Mitarbeiter*innen sogar als „ausländische Agenten“ registrieren lassen. Zugleich werden politische Morde nicht aufgeklärt, wie die russische Historikerin Irina Scherbakowa im Oktober 2016 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk kritisierte. Und werden doch die Mörder verurteilt, wie jüngst diejenigen des oppositionellen Politikers Boris Nemzow, bleiben die Hintergründe unklar.

Mit der hier zusammengestellten Literatur wird ein Bogen gespannt von den Anfängen der Sowjetunion über den Stalinismus bis hin zur Rezeption dieser Geschichte in der Gegenwart. Erste zeitgenössische Betrachtungen aus der Frühphase der Sowjetunion mögen die Zukunft noch offen erscheinen lassen, wie Arthur Koestlers „Von weißen Nächten und roten Tagen“. Die Analysen der Ära Stalin spiegeln dann die dunklen Seiten der kommunistischen Diktatur, die unter dessen Führung einen langen gewalttätigen Zenit erlebt. Während Simon Sebag Montefiore berichtet, wie es „Am Hof des roten Zaren“ zugeht, zeigt beispielsweise Jörg Baberowski in mehreren Studien die inneren Logiken und konkreten Formen von Stalins Herrschaft der Gewalt. Ihre Zuspitzung hat diese Gewalt mit dem Gulag erfahren, von Alexander Solschenizyn einst in Archipel Gulag eindrücklich beschrieben. Hier sei auf den bewegenden autobiografischen Bericht von Julius Margolin über seine „Reise in das Land der Lager“ hingewiesen, außerdem auf die hervorragende Studie „Der Gulag“ von Anne Applebaum sowie die Recherche über die „Die Insel der Kannibalen“ von Nicolas Werth. Dem Alltag in der stalinistischen Diktatur geht hingegen Orlando Figes in „Die Flüsterer“ nach.

Einen Überblick über diese Epoche bieten Autoren wie Archie Brown („Aufstieg und Fall des Kommunismus“), Orlando Figes („Hundert Jahre Revolution“) oder Alexander N. Jakowlew in „Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland“. Der ungarische Schriftsteller und Historiker György Dalos verabschiedet sich dann mit „Lebt wohl, Genossen!“ vom sowjetischen Imperium. In Russland aber ist es ein langsamer Abschied von der Vergangenheit, wie Elke Fein zeigt. Den – fast möchte man sagen: spontanen – Systemumbruch zeigen zum Beispiel Felix Jaitner in „Einführung des Kapitalismus in Russland“ und Jegor Gajdar in „Der Untergang eines Imperiums“. Während aber die Sowjetunion zerfällt, die Planwirtschaft abgeschafft wird und sich Russland eine neue Verfassung gibt, entwickelt die stalinistische Vergangenheit ein Nachleben und dient schließlich dem gegenwärtigen Präsidenten mehr und mehr als Legitimationsgrundlage bei der Verschiebung der politischen Koordinaten hin zu einem System mit autoritären Charakteristika.









































 

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