Skip to main content
Norbert Frei

1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen

München: C. H. Beck 2005; 224 S.; geb., 19,90 €; ISBN 3-406-52954-2
Was haben die Zeitgeschichtler bei der wissenschaftlichen Darstellung des Nationalsozialismus und damit zur Aufarbeitung der Vergangenheit geleistet? War ihr Blick vorurteilsfrei? Nein, meint Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Jena, nicht immer. Zumindest sei die wissenschaftliche Beschäftigung in die öffentliche Meinung eingebettet gewesen und habe deshalb lange blinde Flecken aufgewiesen. Er beschreibt die Phasen und Kristallisationspunkte der NS-Forschung und des öffentlichen Bewussteins, wobei Letzteres keineswegs immer von Ersterer Notiz genommen habe - aber auch der Forschung habe es „über lange Strecken [an] der ‚inneren Freiheit’“ (60) gefehlt, alle Quellen unvoreingenommen auszuwerten. Frei zeigt dies u. a. an der Selbstwahrnehmung der Deutschen nach Kriegsende und ihrer Ablehnung der Entnazifizierung. Er interpretiert die immer wiederkehrende Abwehr einer Kollektivschuld, deren Behauptung sich in keinem alliierten Dokument nachweisen lasse, als die unbewusste Anerkennung eines schlechten Gewissens. Auch die erst in den Siebzigerjahren erfolgte Wahrnehmung der Shoah als zentrales Charakteristikum des Nationalsozialismus bedeute, dass sich die Öffentlichkeit und auch die Wissenschaft erst Jahrzehnte nach Kriegsende der Frage der Schuld zugewandt habe. Frei entwickelt diese Argumentation aus einer Analyse der „Volksgemeinschaft“ heraus - die Begeisterung für Hitler und die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung sei lange von der Forschung nicht in den Mittelpunkt gestellt worden. Die treue Gefolgschaft vieler Deutscher wird außerdem in der Beschreibung von Auschwitz deutlich, das außerhalb (und wegen) des Konzentrationslagers für kurze Zeit ein prosperierender Ort war. Zeitgleich mit dem Ableben der letzten Zeitzeugen der NS-Zeit konstatiert Frei eine „Umkodierung der Vergangenheit“ (17), nicht zum ersten Mal seit Kriegsende würden Deutsche als Bombentote und Vertriebene zu Opfern. Frei befürchtet ein „Ende der Schuld“ (21) im öffentlichen Bewusstsein und stellt an die deutsche Gesellschaft die Frage, „welche Erinnerung an diese Vergangenheit künftig bewahrt werden soll“ (39).
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.35 | 2.313 | 2.315 | 2.312 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Norbert Frei: 1945 und wir. München: 2005, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/23357-1945-und-wir_26788, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 26788 Rezension drucken