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Sebastian Klinge

1989 und wir. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall

Bielefeld: transcript Verlag 2015 (Histoire); 435 S.; 34,99 €; ISBN 978-3-8376-2741-1
Geschichtswiss. Diss. Jena; Begutachtung: N. Frei. – Die Vergangenheit ist gewesen, deswegen aber noch lange nicht unveränderlich – zumindest in dem, wie sie rückblickend wahrgenommen und interpretiert wird. Und diese Interpretation erzählt oft mehr über die Gegenwart denn über das Vergangene. Sebastian Klinge fragt daher danach, was „1989 und Wir“ im Erinnerungsjahr 2009 bedeutete – und betont, dass es durchaus auf das Wörtchen „und“ ankommt, um den gesamten thematischen Komplex zu erfassen. Zunächst erörtert er ausführlich, was Geschichtspolitik ist oder eben gerade nicht leisten kann und zeigt sich dann erleichtert, dass eine konkrete Definition weder vorhanden noch anzustreben ist. Von diesem Ausgangspunkt gelingt ihm eine Erzählung davon, wie in der Bundesrepublik seit dem Fall der Mauer mit der DDR als Geschichte umgegangen wird – in Anlehnung an das Vokabular Derridas charakterisiert Klinge dabei den untergegangenen Staat als ein stetig wiederkehrendes Gespenst und damit als Teil der Gegenwart. Ein erster wichtiger Schritt zum Umgang mit der DDR als Geschichte wurde von staatlichen Institutionen und Expertengremien geleistet, wie der Autor zeigt, der in deren Arbeit zwar einen antitotalitären Konsens, ansonsten aber keine inhaltlichen Vorfestlegungen feststellt. Für das Erinnerungsjahr 2009 selbst identifiziert Klinge einen ganz spezifischen Kontext: Die DDR wurde nun im Zusammenhang mit den Stichworten Europa, Markt und Wahlen interpretiert. An der Debatte über das Schlagwort vom Unrechtsstaat zeigt er auch auf, wie trefflich man aneinander vorbeireden kann. Hervorzuheben ist hier der zitierte Debattenbeitrag von Marianne Birthler, sie stellte klar, dass Staat und Alltagsleben nicht voneinander zu trennen waren. Ein weiteres wichtiges Motiv in der Erinnerung war zudem die Frage, ob die gegenwärtige Demokratie durch ein Weiterleben der SED in der Linkspartei gefährdet sein könnte – zugleich zeigten sich Geschichte und Erinnerung als konstitutiv für die Zukunft der Linken. Klinge rückt dann in das Blickfeld, dass 2009 die Perspektive der Opposition in der DDR an Bedeutung gewann – unter Rückgriff auf Arendt werden hier das Sprechen und das Handeln als die Grundprinzipien des Menschseins betont. Ebenfalls im Jahr 2009 nahm die Verräumlichung der Erinnerung an die Revolution in Berlin und Leipzig zu, die Einheit wurde ansonsten wie schon 1989 im Fernsehen noch einmal als Wunder gefeiert. Insgesamt habe sich der Eindruck verfestigt, so Klinge, dass „1989“ für das Ende einer Geschichte, nicht aber für das Ende der Geschichte stehe.
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Rubrizierung: 2.352.3142.315 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Sebastian Klinge: 1989 und wir. Bielefeld: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39409-1989-und-wir_47785, veröffentlicht am 18.02.2016. Buch-Nr.: 47785 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken