Außen- und Sicherheitspolitik
Ben Rhodes: Im Weißen Haus. Die Jahre mit Barack Obama
19.05.2019Memoiren und autobiografische Literatur können für die Wissenschaft besonders dann wertvoll sein, wenn offizielle Dokumente einer Epoche (oder einer Regierung) noch längere Zeit unter Verschluss sind. Mitunter bildete dieses Genre sogar die einzige Möglichkeit, während oder kurz nach einer Regierungszeit, detaillierte Einblicke in die Arbeitsweise einer Administration zu erhalten. Im Internetzeitalter ist das nicht mehr in solch dramatischem Ausmaß der Fall. Dennoch können Memoiren von früheren Regierungsmitarbeitern im besten Fall weit mehr bieten als bloße Anekdoten oder das Waschen der sprichwörtlichen „schmutzigen Wäsche“ zwischen zwei Buchdeckeln.
Ben Rhodes hat mit seinem umfangreichen Buch „Im Weißen Haus“ diesen Versuch gewagt. 2007 zog er im Alter von 29 Jahren nach Chicago, um sich Obamas Wahlkampfteam als Redenschreiber anzuschließen. Während der Präsidentschaft wurde Rhodes stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater und einer der engsten Vertrauten des Präsidenten; unter anderem stammt Obamas Berliner Rede im Sommer 2008 wesentlich von ihm.
Man merkt diesem Buch deutlich an: Der Autor ist stolz darauf, dass er ein Teil des Teams um Obama war und was dieses Team in den acht Jahren der Präsidentschaft geleistet hat. Und an einigen Stellen scheint Rhodes fast trotzig die Errungenschaften Obamas – und seinen eigenen Anteil daran – zu verteidigen: „Wir hatten alle darauf gesetzt, für den Außenseiter im Wahlkampf zu arbeiten, teilten also etwas Wesentliches – den Glauben daran, dass unser Engagement ebenso historisch wie gerechtfertigt war.“ (46)
Objektiv oder unvoreingenommen ist sein Buch also freilich nicht. Aber es beschreibt sehr eng an den Personen das politische Geschehen, die Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten und auch die Hektik exekutiver Alltagsarbeit. Rhodes setzt allerlei Anekdoten zur Charakterisierung der unzähligen Akteure ein; ausgesprochen häufig ist jedoch das Wort „ich“. Rhodes ist keiner, der seine eigene Rolle kleinzureden versucht, im Gegenteil. Er schreibt an einer Stelle, er habe „oft einen unverstellten Einblick“ in Obamas Denken erhalten, „durch den ich zu einer Brücke zwischen seinen Reden und seinem Handeln wurde“ (85). Solche Aussagen finden sich bei Rhodes vereinzelt und wirken mitunter etwas großspurig. Trotzdem gibt es wohl bislang wenige Bücher, die uns dem ersten afroamerikanischen Präsidenten der USA so nahekommen lassen.
Rhodes beweist dabei immer wieder sein Talent für atmosphärisch dichtes Geschichtenerzählen. Sein Buch hat dadurch auch bei mehr als 570 Seiten Umfang nur selten Längen, kommt flüssig lesbar und erfrischend wenig „verkopft“ daher. Einiges liest sich zudem enorm spannend, zum Beispiel seine Schilderung zum Geschehen unmittelbar nach der Tötung Osama bin Ladens – an solchen Stellen ist es schwer möglich, den Band aus der Hand zu legen.
Der Erzählstil von Rhodes kann aber auch reichlich suggestiv wirken – wenn er etwa über Steve Bannon, den rechten ehemaligen Chefstrategen Donald Trumps, schreibt und direkt im nächsten Satz Hitlers Rolle beim Reichstagsbrand 1933 erwähnt. Andere Schilderungen driften arg ins Sentimentale: Angela Merkel, so beschreibt er beispielsweise den letzten Deutschlandbesuch Obamas, stand beim Abschied „eine einzelne Träne in den Augen – was noch keiner von uns je gesehen hatte“ (14). An vielen Stellen schmückt Rhodes sein Buch durch formschöne Sprache aus – doch mitunter fragt man sich, welche Erkenntnisse man eigentlich aus dem Kapitel mitnimmt, das man gerade zu Ende gelesen hat.
Das soll allerdings nicht heißen, dass der Autor nicht auch sehr lesenswerte Gedanken entwickelt und interessante Einblicke teilt. Wir lesen, Obama sei selbst besorgt gewesen, er wecke zu hohe Erwartungen in einer Welt, die mit Veränderungen oft nur schwerfällig umgeht. An mancher Stelle des Buches finden sich durchaus brisante wörtliche Wiedergaben des früheren US-Präsidenten aus Vieraugengesprächen – hier fragt man sich, ob diese Zitate rein aus Rhodes‘ Erinnerung entstammen oder in irgendeiner Weise autorisiert sind.
In jedem Fall aber bietet „Im Weißen Haus“ einen spannenden Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebes, vor allem auf der Ebene der vielen Berater, Redenschreiber und Spindoktoren, die sich in der US-Hauptstadt tummeln. Rhodes beleuchtet dabei auch Gefechte innerhalb der Administration oder des Regierungsapparates. Oft reißt er solche internen Konfliktlinien nur an – vielleicht möchte der inzwischen 40-Jährige mit Blick auf eine spätere Karriere nicht zu viel Porzellan zerschlagen? Er beschreibt die Politik oft, ohne sie allzu kritisch zu hinterfragen. Umso bemerkenswerter ist deswegen sein Kapitel über den beginnenden Arabischen Frühling: Es sind solche Themen wie die Aufstände gegen Autokraten, bei denen Rhodes sich selbst und auch Obama – die Jüngeren und aus seiner Sicht Weltoffenen der Administration – auf der richtigen Seite der Geschichte sieht. Entgegen stehen dem Militär- und Geheimdienstangehörige sowie etablierte Politikberater, die für Rhodes die Zeichen der Zeit nicht erkennen. Die kontroverse Diskussion über einen Rückzug des ägyptischen Präsidenten Mubarak benennt er dabei explizit als „Generationenfrage“ (151); Verteidigungsminister Robert Gates oder Außenministerin Hillary Clinton sind prominente Figuren, die der Autor unterschwellig kritisiert.
Als inhaltliches Manko des Buches kann gelten, dass Rhodes den Vorwahlkampf gegen Hillary Clinton sowie den anschließenden Wahlkampf gegen die Republikaner 2008 nahezu vollkommen außen vorlässt. Dafür krankt diese deutsche Ausgabe erfreulicherweise nicht – jedenfalls nicht so sehr wie andere ähnliche Bücher – an der Übersetzung, die einige Nuancen und Bedeutungen der Originalsprache schlichtweg nicht adäquat abbilden kann. Denn nicht alles hat eine Entsprechung im Deutschen, auch nicht politische Begriffe. An einigen Stellen fällt trotzdem auf, dass die direkten Zitate wohl im amerikanischen Original flüssiger gewesen sind.
Alles in allem bietet Rhodes mit seinem Buch zahlreiche bemerkenswerte Einblicke in die Dynamik hinter den Kulissen der Obama-Administration. Die Leser*innen sollten sich dabei aber jederzeit bewusst sein, dass es sich nur um die individuelle Sicht eines von vielen Akteuren handelt – die Lektüre anderer Narrative zum Geschehen lohnt also, ist sogar dringend anzuraten. Und natürlich ist „Im Weißen Haus“, wie jedes autobiografische Zeugnis, ein Quelltext, an den man die richtigen Fragen stellen muss.