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Pierre Bourdieu (Hrsg.)

Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992. Hrsg. von Patrick Champagne, Remi Lenoir, Franck Poupeau, Marie-Christine Rivière. Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014; 723 S.; 49,95 €; ISBN 978-3-518-58593-1
Bourdieus Vorlesungen über den Staat liefern dringend benötigte Anstöße in der gerade wieder auflebenden Debatte über eine materialistische Staatstheorie. In bester soziologischer Manier zeichnet Bourdieu die Grundlinien für eine wirklich staatskritische Theorie, die nicht nur den konkreten Staat betrachtet, sondern über die sozialen Vorbedingungen aufklärt, die für die Existenz von Staaten gegeben sein müssen. Er wehrt sich heftig gegen solche marxistischen Theorien, die „immer schon vom Staat ausgehen“ (39) und ihn naiv‑funktionalistisch nur als Zwangsapparat der herrschenden Klasse verstehen. Bourdieu stellt sich damit dem evidenten Problem, dass die Staatsmacht im Regelfall eben nicht auf physischem Zwang, sondern auf symbolischem Konsens aufbaut. Die Herstellung dieses Konsenses fasst er als „symbolische Gewalt“ (54). Bourdieu gibt damit eine Anleitung zur praktischen Dekonstruktion im besten Sinne: An die Stelle der philosophischen Spekulation über die Orte und Wege von performativen Sprechakten tritt die soziologische, methodisch kontrollierte Suche nach den tatsächlichen Instanzen von Performativität. Und Bourdieu findet sie: In politischen Debatten über die Eigenheimfinanzierung, in Untersuchungskommissionen, in Heiratszeremonien, in den Schulen – überall zeigt er auf, wie der Staat gerade nicht als negativ drohende Machtinstanz auftritt, sondern als „Prinzip des Konsenses über den Sinn der Welt“ (24), als „Standpunkt der Standpunkte“ (63). So gesehen kann also nichts so falsch sein wie die demokratische Grundunterscheidung zwischen Staat als Territorium, Volk und Apparat. Dies ist eine reine „Logik des Fetischismus“ (220), die den eigentlichen Gang der Dinge umdreht: Kein Volk einigt sich per Vertrag auf einen einheitlichen Regierungsapparat, sondern ein bestimmtes und vor allem bestimmbares Set von Staats‑Techniken schafft überhaupt erst die Illusion von Volk und Territorium. Bourdieu entwickelt diese Grundintuition ausführlich durch alle Arten von Sozialtheorien hindurch. Er schlägt im Ergebnis einen „genetischen Strukturalismus“ (162) als Forschungseinstellung einer „negativen Soziologie“ (196) vor, mit der der Staat nicht als Akteur, sondern vielmehr Staatlichkeit als eine neue Kapitalsorte, dem „Kapital des Universellen“ (183), analysiert werden kann. „Der Staat ist kein Block, sondern ein Feld“ (48) – diese Prämisse eröffnet tatsächlich vielfältige Einsichten in die Art und Weise, wie „der Staat […] mit der Kontrolle jeder öffentlichen Äußerung verbunden ist“ (260), und sollte vom Standpunkt der marxistischen Kritik gerade deswegen nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung wahrgenommen werden.
Florian Geisler (FG)
B. A., Politikwissenschaftler, Student, Goethe Universität Frankfurt am Main.
Rubrizierung: 5.465.41 Empfohlene Zitierweise: Florian Geisler, Rezension zu: Pierre Bourdieu (Hrsg.): Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989-1992. Frankfurt a. M.: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/37748-ueber-den-staat-vorlesungen-am-collge-de-france-1989-1992_45472, veröffentlicht am 06.11.2014. Buch-Nr.: 45472 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken