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Götz Aly

Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus

Frankfurt a. M.: S. Fischer 2015 ; 266 S. ; 21,99 €; ISBN 978-3-10-000427-7
Der mitlaufende Kleinbürger, der sich in der Diktatur gerne auch einmal nützlich macht und vor allem nach persönlicher Bereicherung trachtet, ist eine Figur, die schon zuvor in den Büchern des Historikers Götz Aly einen prominenten Platz bei der Erklärung eingenommen hat, wie und warum der Nationalsozialismus funktionierte. In der Einleitung zu diesem Band, der zumeist bereits einmal veröffentliche Aufsätze und Reden enthält, die Aly als Gang durch die deutsche Geschichte zusammengestellt hat, wird er allerdings nicht allein in den Mittelpunkt gerückt. Ihm zur Seite stellt der Autor Wissenschaftler, Publizisten und Politiker aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert, an denen sich eine weitere zentrale These spiegelt: Die deutsche Geschichte lässt sich nicht in „gute“ und „böse“ Traditionen trennen. Man konnte im 19. Jahrhundert wie Adolf Stoeker engagierter Sozialreformer und zugleich erklärter Judenhasser sein, im 20. Jahrhundert wie Robert Havemann erst gegen eine Übermacht der Juden in der Chemie schwadronieren und dann gegen die DDR‑Diktatur opponieren. Wiederholt scheint es, als ob der Antisemitismus die einzige Kontinuität darstellte. Gefördert wird dieser Eindruck immer dann, wenn bei der sogenannten Aufarbeitung von Nationalsozialismus und Holocaust Täter und/oder Nutznießer geschont werden. Als ein Beispiel nennt Aly die Provenienzforschung für die Bilder aus der Gurlitt‑Sammlung, bei der nach der Herkunft der Bilder gefragt, die Namen der am Raub Beteiligten aber nicht genannt würden. Besonders eindrucksvoll gelingt ihm der Nachweis der Schonung mit Blick auf die Max‑Planck‑Gesellschaft, deren Archivar doch lieber nicht untersucht haben wollte, dass mit Präparaten, die von Opfern des NS‑Regimes gewonnen worden waren, noch lange gearbeitet wurde. Alys eingangs entfaltete Interpretation allerdings, in der er Protagonisten wie Heinrich Böll angesichts deren eigener Vergangenheit bei ihren publizistischen Äußerungen zu verschiedenen Phänomenen nach 1945 lediglich eine Schuldabwehr attestiert, fordert Widerspruch heraus: Warum sollte sich der Mensch, der begriffen hat, dass er sich an Unrecht und Unmenschlichkeit beteiligt hatte, nicht für die Zukunft verantwortlich fühlen dürfen? Warum sollte er gedanklich in den Grenzen seines Nationalstaates verhaftet bleiben müssen? Aly legt einen äußerst strengen Maßstab an, dem fast allein nur der 1933 exilierte Ökonom und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke gerecht geworden sein dürfte, der sich von Anfang an gegen den Nationalsozialismus wandte. Weniger auf das NS‑System als auf die Bedeutung der Mitläufer zielte auch dessen Warnung vor dem „Massenaufstand gegen Vernunft, Freiheit und Humanität“ (117), die angesichts des grassierenden Rechtspopulismus und ‑extremismus nichts von ihrer Bedeutung verloren hat.
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Rubrizierung: 2.352.31 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Götz Aly : Volk ohne Mitte. Frankfurt a. M.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39333-volk-ohne-mitte_47069, veröffentlicht am 04.02.2016. Buch-Nr.: 47069 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken