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Thomas Etzemüller (Hrsg.)

Vom "Volk" zur "Population". Interventionistische Bevölkerungspolitik in der Nachkriegszeit

Münster: Westfälisches Dampfboot 2015; 297 S.; 29,90 €; ISBN 978-3-89691-719-5
„Anthropologie, Eugenik, Demographie und Rassenkunde“ (7) sollten in der Vergangenheit helfen, die sozio‑biologische Zusammensetzung des „‚Volkskörpers‘“ (7) und seine vermeintliche Bedrohung durch Zersetzung zu beschreiben. Herausgeber Thomas Etzmüller erinnert einleitend an diese dunkle Vergangenheit der Bevölkerungswissenschaft. Diese hatte damals die Aufgabe, mit scheinbar wissenschaftlicher Objektivität eine vorgeblich natürliche Ordnung der Menschen nach Klasse, Ethnie und Geschlecht zu entwickeln, in der jedem Individuum ein Platz zugewiesen werden sollte. Einwanderer aus dem Osten, Arme und (vor allem psychisch) Kranke galten in dieser Geisteshaltung als Angehörige der „‚minderwertigen‘ Schichten“ (8), deren hohe Geburtenraten als Bedrohung dargestellt wurde. Im Fokus der geschichtlichen Betrachtung hätten bisher die bevölkerungsbiologischen Wissenschaften während des Nationalsozialismus und davor gestanden, so Etzmüller, weshalb dieser Sammelband der Betrachtung der Zeit danach gewidmet sei. Maria Daldrup beschreibt, wie viele der Bevölkerungswissenschaftler, die im NS‑Regime erfolgreich waren, spätestens in den 1950er‑Jahren rehabilitiert erneut ans Werk gehen konnten. Daldrup vergleicht einige dieser Biografien und stellt fest, dass enge Beziehungsnetzwerke den Wissenschaftlern halfen, sich und ihre Disziplin erneut zu etablieren. In der Bevölkerungswissenschaft sieht sie daher „personell wie inhaltlich zahlreiche Kontinuitäten über 1945 hinaus“ (51). Britta‑Marie Schenk schreibt über die „Bevölkerungspolitik im Kleinen“ (223) und schildert diese anhand der Praxis der humangenetischen Beratungsstelle im Krankenhaus Hamburg‑Barmbek, Sterilisationen auch gegen den Willen der Betroffenen vorzunehmen. In den 1980er‑Jahren sei es gängig gewesen, für Frauen, bei denen eine geistige Behinderung diagnostiziert wurde, eine Sterilisationsempfehlung auszustellen. Die Einwilligung der zuständigen Mediziner und des gesetzlichen Vormundes habe damals ausgereicht, um Zwangsterilisationen zu rechtfertigen. Dies zeige, dass „sich die Humangenetik [damals] keineswegs vollständig von radikalen bevölkerungspolitischen Praktiken gelöst hatte, wenn es um als problematisch empfundene Bevölkerungsteile ging, die Mindestanforderungen gesellschaftskonformen Verhaltens unterliefen“ (239). Schenk verweist zudem darauf, dass gerade eine liberaler gewordene Einstellung gegenüber der Sexualität von Menschen mit Behinderung „Verhütungsfragen“ (225) dringlicher habe erscheinen lassen.
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Rubrizierung: 2.22.2632.3432.612.672.654.34.42 Empfohlene Zitierweise: Wolfgang Denzler, Rezension zu: Thomas Etzemüller (Hrsg.): Vom "Volk" zur "Population" Münster: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39342-vom-volk-zur-population_47387, veröffentlicht am 04.02.2016. Buch-Nr.: 47387 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken