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Katja Kipping

Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss

Frankfurt a. M.: Westend Verlag 2015; 203 S.; 16,- €; ISBN 978-3-86489-133-5
Mit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 „platzt die Systemfrage in die bis dato vermeintlich heile Welt des Merkel’schen Biedermeiers“ (8), schreibt Katja Kipping. Die Vorsitzende der Partei Die Linke sieht die Flüchtlinge als unfreiwillige Überbringer einer deutlichen Botschaft: So wie die Europäer gewirtschaftet, gearbeitet, konsumiert und Politik gemacht haben, kann es nicht weitergehen. Die globale Ungerechtigkeit sieht die Autorin als Hauptursache für die aktuellen Fluchtbewegungen, eine kritische Auseinandersetzung mit dem „kapitalistischen Weltwirtschaftssystem“ (9) sei deshalb unvermeidbar. Den regierenden Akteuren wirft sie eine schlechte Vorbereitung auf die absehbaren Herausforderungen vor, spricht von einem „gravierende[n] institutionelle[n] Versagen“ (87) beziehungsweise gar von einer absichtlichen „Inszenierung des Notstands“ (86). Verantwortliche wie Thomas de Maizière hätten nach Meinung Kippings die absehbare Zuspitzung der Zustände und die folgenden Konsequenzen verhindern können. Gewalttätige Auseinandersetzungen in überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen bestärkten fatalerweise rassistische Ressentiments in bestimmten Milieus. Die politischen Fehlentscheidungen müssten nun die Ehrenamtlichen und kommunalen Helfer ausbaden. Kipping skizziert das idealistische Bild einer Gesellschaft, in der so viele Menschen wie nie zuvor „die Schwelle zum Handeln“ (99) überschreiten und sich für Flüchtlinge engagieren. Ihre These lautet, dass gerade krisenhafte Zeiten eine Wende zum Positiven ermöglichen, zu einem Mehr an Demokratie, Mitsprache und Solidarität in Deutschland und Europa führen könnten. Kulturen müssten nicht vor dem Fremden geschützt werden, da sie ohnehin liquide seien und einer „permanente[n] Neuzusammensetzung“ (132) und Veränderung unterlägen. Kipping entwickelt die Vision eines „Land[es] für alle“ (174), das in einen globalen Postkapitalismus eingebettet sein sollte. Migrationsprobleme wären nicht mehr existent, da es das Recht auf Freizügigkeit gäbe. „Ländergrenzen [würden] verdampfen in einem Mitgefühl, das uns alle vereint.“ (175) Die Autorin bewertet diese Vision als gar nicht mal so wirklichkeitsfern: Viele Einzelbeispiele von organisierter Solidarität und spontanem Widerstand gegen autoritäre Mächte sieht sie als erste Ansätze für einen neuen Aufbruch. Nicht selbstverständlich für ein Sachbuch sind die zahlreichen Quellenbelege und das ausführliche Literaturverzeichnis.
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Rubrizierung: 4.424.433.52.3432.352.37 Empfohlene Zitierweise: Wolfgang Denzler, Rezension zu: Katja Kipping: Wer flüchtet schon freiwillig. Frankfurt a. M.: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39897-wer-fluechtet-schon-freiwillig_48262, veröffentlicht am 07.07.2016. Buch-Nr.: 48262 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken