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Dan Diner

Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte

München: Pantheon 2010; 271 S.; 12,95 €; ISBN 978-3-570-55129-5
Der Moderne sei kein guter Leumund beschieden, meint der Historiker Diner. Aber welcher Moderne? Synchronisieren sich überhaupt die „Zeit- und Erfahrungsräume“ so, dass „ein (am westlichen Kanon orientiertes) historisches Urteilen“ möglich ist? „Oder ist das globalisierte Jetzt von einer derartigen Vielfalt von Ungleichzeitigkeiten durchzogen, dass sich auch keine fiktive Achse von Gleichzeitigkeit mehr angeben lässt“ (9)? Auf der Basis dieser Fragen versucht Diner zwar, seine weiteren Überlegungen „den zeitgeistigen Eindrücken in ihrer blendenden Unmittelbarkeit zu entziehen“ (8). Dennoch kommt er in den zehn (zuvor anderweitig publizierten) Beiträgen zu lesenswerten Erkenntnissen über die Gegenwart. Mit einem Rückblick auf ihre historischen Wurzeln entwirft Diner die USA als einen Fixstern der Moderne, von Hegel als „bürgerliche Gesellschaft ohne Staat“ (131) charakterisiert – und vor allem „[m]ehr Zeit als Ort“ (132). Diner erinnert an die Ideen von Demokratie und Liberalismus und damit an einen Idealtypus. Im Gegensatz dazu fällt ein tiefer Schatten auf die islamische Welt, deren Suche nach den Gründen der eigenen, zurückgefallenen Entwicklung im Handeln des (einst kolonialisierenden) Westens und deren mangelnde Einsicht in die eigene Verantwortung. Als Dreh- und Angelpunkt für die – auch aufklärerische – Unterentwicklung benennt Diner die Vorherrschaft des Hocharabischen als Schriftsprache. Die sakral aufgeladenen Zeichen hemmten jeden profanen Gebrauch. Einzig die Türkei habe sich mit der Einführung des lateinischen Alphabets bewusst der Modernisierung geöffnet. Für Europa wiederum ergibt sich ein weiterer, anderer Blick auf die Moderne, den Diner vor allem im Kontext der Erinnerung an den Holocaust erarbeitet. Zudem sei es nur der Holocaust (an dem die arabische Welt nicht beteiligt war), der das Existenzrecht Israels in den Augen der Welt begründe, eine biblische Legitimation werde nicht anerkannt. In einer Würdigung der Schriften Hannah Arendts findet sich schließlich der inhaltliche Bogenschlag: Jenseits eines eigenen Nationalstaates und unter „Wahrung von Mindestanteilen jüdischen Selbstverständnisses“ erschienen ihr die USA und „ihre von der Herkunft absehende Verfassung“ (247) als angemessene Existenzform – eine Existenzform, so könnte man es lesen, die den Kern der Moderne ausmacht.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.23 | 2.63 | 2.64 | 4.22 | 4.41 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Dan Diner: Zeitenschwelle. München: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/32572-zeitenschwelle_38880, veröffentlicht am 14.09.2010. Buch-Nr.: 38880 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken