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Peter R. Neumann: Der Terror ist unter uns. Dschihadismus und Radikalisierung in Europa

03.01.2017
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Autorenprofil
Dr. Dirk Burmester
Berlin, Ullstein 2016

Der islamistische Terrorismus ist „unter uns“, wie es der Titel dieses Buches von Peter R. Neumann etwas reißerisch verdeutlicht. Das ist er allerdings schon seit Jahren, möchte man hinzufügen. Die Zahl der Radikalisierten und der Anschläge nimmt in Europa zu. So wird es allmählich zur Gewissheit, dass auch die westlichen Gesellschaften noch lange Zeit mit der Terrorgefahr leben müssen. Braucht es da überhaupt noch immer weitere Literatur zum Thema? Der Leiter des Centre for the Study of Radicalisation am Londoner King’s College hat daran keinen Zweifel und legt nach seinem erst im Herbst 2015 erschienenen Buch „Die neuen Dschihadisten“ gleich nach. Hatte er darin vor allem die jüngsten Entwicklungen gegenwärtiger dschihadistischer Organisationen dargestellt, beschreibt der Politikwissenschaftler nun anhand einzelner Biografien fünf Bausteine, die bei Radikalisierungen typischerweise eine Rolle spielen: Frust, Drang, Ideologie, Gruppen (Peers und Anführer) sowie Gewalt. Seine Ausführungen basieren auf einer seiner Lehrveranstaltungen, die er in Großbritannien, den USA und Frankreich gehalten hat. Er führt darin die wesentlichen belastbaren Forschungsergebnisse zusammen. Immer wieder weist Neumann darauf hin, dass keiner dieser Bausteine für sich genommen eine Radikalisierung erklärbar mache. Meist handele es sich um notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen, die in spezifischer Weise zusammenwirkten und eine verhängnisvolle Entwicklung zur Folge hätten. Frustration und persönliche emotionale Bedürfnisse spielen demnach oft eine wesentliche Rolle, auch die soziale Macht der Gruppe oder ein charismatischer Anführer. Ideologien wiederum „reduzieren Komplexität, kanalisieren Frust, lenken diesen in eine politische Richtung, artikulieren eine Vision und liefern eine Handlungsanleitung“ (85). Neumann begreift überdies Gewalt nicht nur als Ergebnis von Radikalisierung, sondern auch als verursachenden Faktor, etwa durch exzessiven Konsum grausamer Propaganda-Videos, aber auch durch eigenes Erleben, zum Beispiel im Krieg oder aufgrund staatlicher Repression.

An diesen ersten Teil zu Bausteinen knüpft ein zweiter zu den Trends dschihadistischer Radikalisierung an. Manche dieser Trends stellen alte Gewissheiten infrage, etwa zur sozialen Macht der Gruppe oder wenn dschihadistische Frauen ihr Handeln als Akt der Emanzipation begreifen. Dem Internet kommt in beiden Fällen eine erhebliche Bedeutung zu. Insbesondere die sozialen Medien hätten manchen Aspekten des modernen Terrorismus zu neuer Qualität verholfen und einige Taten „einsamer Wölfe“ erst ermöglicht. Den akademischen Streit um die Bedeutung des Internets bei der Radikalisierung hält Neumann gleichwohl für verfehlt – schließlich lasse sich zwischen on- und offline in der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen kaum mehr sinnhaft trennen. Eine inzwischen auch mit Zahlen des BKA untermauerte Entwicklung beschreibt Neumann als „Proletarisierung“ (221) des Dschihadismus – auffällig häufig sind Kleinkriminelle unter den europäischen IS-Anhängern. Ihr Hang zur Gewalt wird im IS nicht mehr stigmatisiert, sondern mit Ruhm und Anerkennung belohnt.

Notwendigerweise mehren sich im zweiten Teil die Überschneidungen zu Neumanns vorherigem Buch. Der Autor nimmt direkt Bezug auf seine Vorjahres-Publikation, in der er sein Konzept einer „fünften Welle“ (238) des Terrorismus ausgeführt hat. Wenig überraschend ist denn auch die abermalige Betonung von Präventions- und Deradikalisierungsprogrammen am Ende. Dieser Abschnitt ist zweifellos der wichtigste, aber eben auch der unspektakulärste Teil des Buches. Die politische Willensbildung bei der Finanzierung und Erprobung solcher Programme bedarf leider regelmäßig drastischer Einzelfälle und Anschläge.

Für das Buch gilt insgesamt: Wer sich für Radikalisierung interessiert, hat das meiste davon schon einmal gelesen. Die Lektüre ist dennoch ein Gewinn. Das liegt insbesondere an der Anschaulichkeit und Prägnanz der Schilderungen, aber auch an dem Erfahrungsschatz aus der Forschung mit Radikalisierten, aus dem Neumann schöpfen kann. Seine Darstellung lebt von den eindrücklichen Biografien der insgesamt 24 höchst unterschiedlichen Terroristen. Als Beispiele dienen ihm nicht nur Islamisten mit schwer zu merkenden Namen, die schnell in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, aus der sie gekommen sind. Neumann geht auch auf links- und rechtsextremistische Täter ein, wie Andreas Baader, Anders Breivik oder Uwe Böhnhardt, sowie auf die Exzesse der IRA.

Das Buch stellt auch einen Beitrag zur Entkräftung der These dar, die Schuld für den grassierenden Dschihadismus sei maßgeblich in „dem“ Islam zu suchen. Religion sei nicht an sich das Problem, sondern „problematisch“ (144) in dem Sinne, dass sie Menschen auch negativ inspirieren könne. Neumann hat erkannt, dass die eigentliche Gefahr für Europas Gesellschaften nicht in terroristischen Anschlägen liegt, sondern in ihrer wachsenden Polarisierung. Besonders deutlich wird das an der Ideologie der „Counter-Dschihadisten“, die Europa gegen ein Vordringen „des“ Islam verteidigen wollen. Diese Gedankenwelt weist frappierende Parallelen zum Salafismus auf – und wird von PEGIDA-Anhängern ebenso geteilt wie von Anders Breivik. Beide – Islamisten und Islamfeinde – streben eine gesellschaftliche Trennung von Muslimen und Nicht-Muslimen an. Es bleibt zu hoffen, dass Bücher wie dieses dazu beitragen, derartige Ideen durchschaubar zu machen und letztlich zu verhindern.

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